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«Ohne Arbeit fehlt uns der Sinn des Lebens vollends»

«Ohne Arbeit fehlt uns der Sinn des Lebens vollends» «Ohne Arbeit fehlt uns der Sinn des Lebens vollends»

Nach 36 Jahren im Dienst der Grundbildung beim Kanton Schwyz wird Benno Kälin pensioniert. Der 65-jährige Ausbildungsberater aus Gross schildert, wie sich der Stellenwert der Arbeit gewandelt hat und was den Lehrlingen derzeit auf den Nägeln brennt.

MAGNUS LEIBUNDGUT

Am Freitag haben Sie Ihren letzten Arbeitstag in Ihrem Leben: Freuen Sie sich darauf oder wird Ihnen eher mulmig zumute? Es ist schon ein spezielles Gefühl. Ich fühle mich noch fit und gesund, habe bis heute gerne gearbeitet und bin auch noch nicht ausgebrannt. Wir haben auch ein tolles aufgestelltes Team. Somit hätte ich noch ein bis zwei Jahre problemlos weiterarbeiten können. Es ist aber auch schön, fit und gesund in die Pension zu gehen. Natürlich freue ich mich auf mehr Freizeit, Zeit für mich und meine Hobbys zu haben, einmal längere Touren mit dem Bike unternehmen zu können, im Winter Langlauf zu machen und im Haus und im Garten zu wirken. 36 Jahre und sieben Monate an derselben Arbeitsstelle zu verbringen ist selten geworden in unserer überaus schnelllebigen Zeit: War das Ihre Lebensstelle par excellence? Ja, das war es in der Tat. Genau vor 37 Jahren im Juli 1984 habe ich das Stelleninserat im Einsiedler Anzeiger gesehen: Man hat einen Handwerkermeister als Sachbearbeiter für Berufsbildungsfragen auf dem Amt für Berufsbildung gesucht. Das Inserat hat mich sofort angesprochen, und die gestellten Anforderungen habe ich alle vollumfänglich erfüllt. Nach Rücksprache mit meiner Frau habe ich mich dann umgehend auf die Stelle beworben und wurde dann aus 57 Bewerbern vom Schwyzer Regierungsrat für diese Stelle gewählt. Damals waren wir noch im Beamtenstatus. Dass dann die Tätigkeit auf dem Amt für Berufsbildung zu meiner Lebensstelle wird, hätte ich damals nicht gedacht. Da bin ich wirklich ein Exot. Heute wechselt man ja mehrmals den Beruf oder die Stelle. War es Ihr Bubentraum, Berufsinspektor zu werden? Oder sind Sie vielmehr zu diesem Beruf gekommen wie die Jungfrau zum Kind? Nein, das war überhaupt nicht mein Bubentraum (lacht): Als Kind war ich Autofan und habe deshalb entgegen des Rats des Berufsberaters die Lehre zum Automechaniker absolviert. Er war der Meinung, dass für mich eine Lehre in kaufmännischer Richtung besser wäre. Nach der Lehre habe ich mich dann im kaufmännischen Bereich weitergebildet und den Vorbereitungskurs auf die Höhere Fachprüfung besucht. Die Meisterprüfung habe ich im Hinblick auf eine Tätigkeit als Instruktor bei den überbetrieblichen Kursen oder für die Ausbildung zum Berufsfachschullehrer absolviert. Die Stelle als Berufsinspektor wurde aufgrund des neuen Berufsbildungsgesetzes mit Inkraftsetzung im Jahr 1980 geschaffen. Gemäss diesem Gesetz ist die Lehraufsicht auf den Berufsbildungsämtern in der Schweiz aufgebaut worden. In diesem Sinne kam ich in der Tat zu diesem Beruf wie die Jungfrau zum Kinde – weil es diesen Beruf vorher noch gar nicht gab. Welche Höhepunkte haben Sie in diesen 36 Jahren erlebt? Rückblickend darf ich sagen, dass mir die vielfältige Arbeit auf dem Amt für Berufsbildung immer sehr gut gefallen hat. Ich habe nicht nur einen Bürojob gehabt. Ich habe sehr viele interessante Betriebe im Kanton Schwyz besuchen können und kennen gelernt. Eine Abwechslung waren auch die Organisation und der Einsatz als Referent an den Berufsbildnerkursen im Kanton Schwyz. Ein paar Jahre war ich auch noch im Kanton Uri an den Berufsbildnerkursen als Referent engagiert. Ich hatte Kontakte mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen aus allen Schichten und mit verschiedenen Charakteren. Zudem habe ich das ganze Berufsleben mit Jugendlichen im Alter von 15 bis 20 Jahren zu tun gehabt. Dies hielt mich gefühlt jünger als ich bin. Wie hat sich das Berufsbild in dieser Zeit verändert? Die Arbeit hat sich von der Aufsicht weg zu beratender Tätigkeit verändert. Deshalb wurde die Berufsbezeichnung von Berufsinspektor auf Ausbildungsberater und die Abteilung von Lehraufsicht in Berufliche Grundbildung geändert.

Ist das Arbeitsleben strenger oder lockerer geworden unterdessen?

Das Arbeitsleben aus meiner Sicht ist nicht strenger oder lockerer geworden, sondern hektischer. Durch die Digitalisierung und die neuen Kommunikationsmittel wird alles schneller und stressiger. Früher zum Beispiel dauerte eine Übermittlung einer Antwort oder eines Entscheids per Brief zirka eine Woche. Heute möchten alle eine Antwort oder den Entscheid per E-Mail am gleichen Tag. Wie haben sich die Berufe gewandelt, für die Sie als Ausbildungsberater zuletzt zuständig gewesen sind? Mit der Automatisierung, der Digitalisierung und den raschen technologischen Veränderungen sind die Berufe anspruchsvoller und komplexer geworden. Dies stellt auch höhere kognitive Anforderungen an die Lernenden. In einigen Hightech-Berufen wie etwa Automatiker, Informatiker, Automobil- Mechatroniker oder Polymechaniker muss das Level der Lernenden auf Gyminiveau sein. Welche Unterschiede stellen Sie fest, wenn Sie ein Leben eines Lehrlings in den 80er-Jahren mit einem Dasein eines Lernenden in unserer Zeit vergleichen? Durch die höheren Anforderungen und die Informationsflut durch die sozialen Medien sind der Druck und der Stress auf die Jugendlichen gewachsen. Zudem sind diese kritischer geworden und melden sich früher auf dem Amt, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen oder die Ausbildung im Betrieb aus ihrer Sicht mangelhaft ist. Wie wirken sich die veränderten beruflichen Perspektiven unserer Zeit auf die Berufswahl der Jugendlichen aus? In gewissen Berufen herrscht akuter Fachkräftemangel. Dies vor allem in handwerklichen oder Lebensmittelberufen sowie in technisch anspruchsvollen Berufen. Weil viele Jugendliche das Gymi vorziehen, finden die Lehrbetriebe keine Lernenden mit den erforderlichen kognitiven Fähigkeiten. Wenn sich Jugendliche für solche Berufe entscheiden, haben sie sehr gute Perspektiven. Somit gilt der Spruch «Handwerk hat goldenen Boden» immer noch.

Was drückt den Lehrlingen auf den Nägeln?

«Schaffe, schaffe, Häusle baue»: Dieser Leitsatz gilt für die Generation Z, für die ab dem Jahr 1995 Geborenen, schon lange nicht mehr. Viel arbeiten und viel Geld verdienen, um sich damit ein Auto, ein Haus, ein Boot leisten zu können, liegt nicht mehr im Interesse der heutigen Jugend. Statt ein 100-Prozent-Arbeitspensum zu absolvieren, wollen Jugendliche lieber mehr Freizeit: Geld ist nicht mehr das Wichtigste in ihrem Leben. Was raten Sie den Jugendlichen, welchen Beruf sie ergreifen sollen? Aufgrund der Durchlässigkeit unseres Bildungssystems spielt es keine Rolle, in welchem Beruf oder mit welcher Ausbildung Jugendliche einsteigen. Wichtig ist, dass die Ausbildung den Eignungen und Fähigkeiten entsprechen und das Interesse sowie die Freude für diese Tätigkeit vorhanden sind. Dank des dualen Bildungssystems kann ein Lehrling via Berufsmatur und Passerelle später noch Rechtsanwalt werden. Ein Maturand oder Student kann als Erwachsener in den berufsbildenden Bereich einsteigen und zum Beispiel eine höhere Fachschule oder Fachhochschule besuchen. In früheren Zeiten war das naturgemäss ganz anders: Wer einen bestimmten Beruf gelernt hat, hat diesen Beruf oftmals das ganze Leben ausgeübt. Man spricht von einem zunehmenden Stress in unserer Arbeitswelt. Wie haben Sie den Arbeitsdruck in Ihrem eigenen Beruf beim Kanton empfunden? Die Arbeit ist nicht weniger geworden, und der Zeitdruck durch die neuen Kommunikationsmittel und Technologien hat tatsächlich zugenommen. Man ist und wird gefordert und muss sich laufend anpassen und weiterbilden. Ansonsten verliert man rasch den Anschluss. Zudem sind die Leute ungeduldiger geworden. Dies alles kann zu Stresssituationen führen. Zum Glück bin ich physisch und psychisch immer noch in guter Verfassung und konnte damit die schnellen Veränderungen und die geforderten Weiterbildungen gut meistern. Hätten Sie sich vorstellen können, einen ganz anderen Beruf in Angriff zu nehmen? Bei der Berufswahl noch nicht. Wie bereits erwähnt war ich Autofan und deshalb auf Automechaniker fokussiert. Danach wollte ich als Lehrkraft in der beruflichen Ausbildung einsteigen. Da ich zufällig auf das Stelleninserat im EA gestossen bin und die Stelle auf dem Berufsbildungsamt erhalten habe, bin ich direkt in die Aufsicht und Beratung der beruflichen Grundbildung eingestiegen. Diesen Schritt habe ich bis heute nicht bereut. Ich habe im Schwyzer Bildungsdepartement sehr lehrreiche und spannende Jahre verbringen dürfen. Ich habe meine Arbeit über all die Jahre mit wenigen Ausnahmen sehr gerne erledigt und bin immer gerne zur Arbeit gegangen. Hätten Sie gerne noch ganz andere Dinge in Ihrem Leben gemacht?

Neben einem interessanten und erfüllten Berufsleben konnte ich noch weitere Aufgaben und öffentliche Ämter ausüben: Zum Beispiel war ich von 1995 bis 2005 Chef der Zivilschutzorganisation Einsiedeln, sechs Jahre lang im Schulrat und von 2004 bis 2020 Bezirksrichter. Welchen Stellenwert messen Sie der Arbeit in unserer Gesellschaft zu?

Je nach Perspektive einer Generation wird diese Frage wohl ziemlich unterschiedlich beantwortet werden. Für meine Generation gilt: Ohne Arbeit fehlt uns der Sinn des Lebens vollends. Arbeitslos zu werden kann bedeuten, dass es uns den Boden unter den Füssen wegzieht. Die Jugend von heute wiederum findet den Sinn des Lebens in ganz anderen Dingen: Weniger in der Arbeit, mehr in der Freizeit, in den Hobbys, im Reisen. Man hat anschaulich gesehen, welche Verwerfungen die Corona-Pandemie bei der Jugend ausgelöst hat, weil das Virus das übliche Freizeitverhalten hat ausfallen lassen. Angesichts drohender Arbeitsplatzverluste in der Zukunft: Begrüssen Sie die Einführung eines bedingungslosen Einkommens?

Grundsätzlich nicht, weil ich finde, dass man ein Einkommen erarbeiten sollte. Auf der anderen Seite muss man auch sehen, dass es Leute ohne Ausbildung heutzutage sehr schwer haben, eine Arbeit zu finden, weil es die klassischen Hilfsarbeiterjobs von früher nicht mehr gibt. Auch psychisch Behinderte oder von Mobbing Heimgesuchte haben es schwer, in der Arbeitswelt Fuss zu fassen. Am Freitag endet Ihr Arbeitsleben: Was wird Ihnen am meisten fehlen aus Ihrer Arbeitswelt?

Es wird sicher das tolle Team sein und der Kontakt zu langjährigen Mitarbeitenden. Teilweise ergaben sich daraus auch Freundschaften. Dank Ihrer Pensionierung erhalten Sie auf einen Schlag ganz viel freie Zeit: Wissen Sie bereits, was Sie mit dieser Zeit anstellen wollen?

Mit Haus und Garten hat man immer Arbeit: Da stehen einige Projekte an. Dann hoffe ich auch, dass ich mit meiner Frau öfters und längere Zeit im Tessin verbringen kann. Dies kam bis jetzt zu kurz. Dann natürlich meine Hobbys: Biken, Langlauf, Reisen. Meine Frau hat schon einige Reisepläne geschmiedet. Ich hoffe nur, dass wir so lange leben und gesund bleiben, damit wir all diese Reisen noch verwirklichen können. Jeder möchte lange leben, aber keiner will alt werden: Wie empfinden Sie das Altern? Ich fühle mich jünger als ich wirklich bin (lacht). Ich glaube, das Älterwerden empfindet man weniger schlimm, wenn man auf ein erfülltes Leben zurückschauen kann. Aber auch mich beschäftigt der Umstand, dass man an Alzheimer oder Krebs erkranken könnte. Die Gretchenfrage zum Schluss: Wie haben Sie es mit der Religion?

Ich entstamme einem durch und durch katholischen Milieu, bin aber nicht ein übereifriger Kirchgänger. Eine Angst vor dem Tod spüre ich weniger, weil ich an ein Jenseits glaube, an eine höhere Macht, die über unser Schicksal bestimmt. Es ist eher das Sterben an sich, das mir Mühe bereitet.

Benno Kälin hat am Freitag seinen letzten Arbeitstag in seinem Leben. Jetzt gilt es, Abschied zu nehmen vom Büro 205 – im Amt für Berufsbildung an der Kollegiumstrasse in Schwyz. Foto: Magnus Leibundgut

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