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Energie- und Bildungsort Einsiedeln

Energie- und Bildungsort Einsiedeln Energie- und Bildungsort Einsiedeln

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GERHARD SCHMITT

Niagarafälle bei Einsiedeln – am Abend des 14. Juli schauten Menschen fasziniert über die Leitplanken gelehnt auf die gewaltigen Wassermassen, die auf der gesamten Breite die Staumauer hinunterstürzten, die Sihl in ein Wildwasser verwandelten und gleichzeitig Zürich vor drohendem Hochwasser schützten. Ein Überfluss an erneuerbarer Energie – seit Tagen mehr Wasser, als das Etzelwerk zur Stromproduktion verarbeiten kann.

In Zeiten des Mangels an Zufluss produziert das zuvor gestaute oder mit überschüssiger Energie hochgepumpte Wasser weiterhin Elektrizität: Insgesamt 260 Gigawattstunden im Jahr. Der Sihlsee ist seit 1937 ein genialer erneuerbarer Energie-Akku für die SBB, für die Region und darüber hinaus. Doch dank technischem Fortschritt gewinnt im Bezirk Einsiedeln eine weitere Form erneuerbarer Energie an Bedeutung: Solarstrom.

Im Überfluss zur Verfügung

Mit mehr als 1580 Sonnenstunden und über 1000 kWh/m2 Einstrahlung pro Jahr steht im Bezirk Sonnenenergie im Überfluss zur Verfügung, erst weniger als 10 Prozent des Potenzials werden genutzt. Ein visionärer Bezirksrat beschloss vor 10 Jahren, Energiestadt zu werden, und seit 2014 trägt Einsiedeln offiziell diese Auszeichnung des Bundes. Bereits funktionierende Beispiele sind Holzwärmeverbunde, eine Solarsiedlung und Minergie-Gebäude. Heute können Neubauten in der Schweiz durch Photovoltaik auf Dächern und Fassaden über das Jahr mehr Energie produzieren als für Heizung und Mobilität verbraucht werden: Erzeugung von Elektrizität direkt dort, wo sie gebraucht wird.

Gebäude mit Photovoltaikanlagen, Batterien und Wärmepumpen helfen, fehlende Produktion in der Nacht zu überbrücken und fossile Brennstoffe zu ersetzen. Batterien in den zahlreicher werdenden Elektroautos reduzieren den Verbrauch fossiler Treibstoffe und damit den CO2-Ausstoss.

Mit dem Zentrum Einsiedlerhof kann der Bezirk hier einen überzeugenden Schritt tun und als Vorbild die gesamte Anlage klimaneutral errichten. Die Baukompetenz dafür ist in Einsiedler Firmen vorhanden, an geeigneten Dächern und Fassaden fehlt es nicht. Und Einsiedeln hätte ein zukunftssicheres Ensemble am historischen Klosterplatz, der keine beliebige Architektur verträgt. Doch wo werden die Grundlagen dieser neuen Technologien entwickelt, an deren Erfolg vor wenigen Jahren nur wenige glaubten?

Keine 35 Kilometer entfernt

Keine 35 Kilometer Luftlinie nordwestlich von Einsiedeln besuchen in und um Zürich mehr als 60’000 Studierende ausgezeichnete Universitäten und Fachhochschulen. Mit der ETH steht dort die führende Technische Universität Kontinentaleuropas, an der allein 4300 junge Menschen für ihre Dissertation forschen und lehren und aus der in den letzten Jahren Spin-offs mit einem Unternehmenswert von mehr als 5 Milliarden Franken hervorgingen, die Tausende von neuen Arbeitsplätzen schaffen.

Ein Überfluss an Talent für eine solche im internationalen Vergleich kleine Stadt? Nicht wirklich. Das erarbeitete Wissen wird in Bibliotheken wie in einem Akku gespeichert und bei Bedarf abgerufen. Daraus entstehen Anwendungen, die neue Information erzeugen, die ebenfalls in die Bibliotheken fliesst. So nimmt das gespeicherte Wissen stetig zu. Vernetzung und Digitalisierung der Bibliotheken machen dieses Wissen für alle zugänglich: Für KMU und grössere Betriebe in Einsiedeln, die so auf Spitzenforschung zugreifen können; und vor allem für Schulen in der Schweiz und in aller Welt, aus denen die Talente für künftige Ausbildung, Forschung, Entwicklung und Firmengründungen kommen, wie am Beispiel Einsiedeln sichtbar wird.

Freiheit und Kompetenz

Im Bildungsort Einsiedeln mit seinen Vierteln besteht ein hervorragendes Angebot an Schulen. Dort steht im bedeutendsten Barockbau der Schweiz seit 1839 die Stiftsschule, in der kürzlich vier Schülerinnen das reale Miniunternehmen «The Crunchy Company» gründeten und im nationalen Wettbewerb von Young Enterprise Switzerland (YES) auf Anhieb den Titel «Company of the Year 2021» gewannen. Die an dieser Stiftsschule entstehenden Maturaarbeiten sind beeindruckend und weitsichtig, wie die externe Jury für ihre Beurteilung auch in diesem Jahr feststellte. Ein Überfluss an Ideen, die mutig fundamentale Fragen der Zukunft angehen und zu überzeugenden Ergebnissen kommen. Sie sind im besten Sinne des Wortes der Zeit voraus und frühe Indikatoren von dem, was kommt.

Dies kann nur in einer Atmosphäre der kritischen Freiheit und hoher Kompetenz geschehen, wie ich sie weltweit noch selten gesehen habe, und die unbedingt gestärkt werden muss. Die Stiftsschule aus finanziellen Gründen zu schliessen wäre ein Desaster, das mit jedem Jahr für den Kanton und die Schweiz sichtbarer würde. Diese Stiftsschule wie die anderen Bildungsorte sind die wichtigsten Quellen für die Talente, die wir für die Zukunft brauchen. Deshalb müssen wir jetzt in sie investieren. So kann Einsiedeln, responsiv und regenerativ, die Wissens- und Energiestadt der Schweiz werden und seine grosse Tradition nicht nur weiterführen, sondern ausbauen.

Gerhard Schmitt, Professor Emeritus für Informationsarchitektur, ETH Zürich. 2010 Gründungsdirektor, Singapore- ETH Centre; Mitentwickler des Future Cities Laboratory in Singapur. Seit 2017 Forschungsleiter für Cooling Singapore. Seit 2005 Entwicklung der Informationsarchitektur im urbanen und territorialen Massstab an der ETH Zürich und in Asien. Studien in München, Los Angeles und Berkeley. 1988 Berufung an die ETH Zürich. Zuvor Associate Professor an der Carnegie Mellon Universität; Gastprofessor an der Harvard University. 1994 bis 1996 Vorsteher der Architekturabteilung der ETH Zü rich. 1998 bis 2008 Vizepräsident der ETH Zürich für Planung und Logistik. 2000 Initiator virtuellen Campus ETH World und 2003 des nachhaltigen Science City Campus der ETH Zürich. Für diese Arbeit erhielt er 2010 den europäischen Wissenschafts-Kulturpreis.

«Die Stiftsschule wie die anderen Bildungsorte sind die wichtigsten Quellen für die Talente, die wir für die Zukunft brauchen.»

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