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«Die Kirche vertrat die Meinung, die indigene Kultur sei minderwertig»

«Die Kirche vertrat die Meinung, die indigene Kultur sei minderwertig» «Die Kirche vertrat die Meinung, die indigene Kultur sei minderwertig»

Urban Federer, Abt im Kloster Einsiedeln, steht Red und Antwort zur Zwangsmission in Nordamerika: «Für Einsiedeln ist zwar keine Verbindung nach Kanada bezeugt. Aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, zur Aufklärung so weit als irgend möglich beizutragen.»

MAGNUS LEIBUNDGUT

Sind Sie überrascht worden von den Geschehnissen in Kanada?

Schockiert bin ich, ja. Seit der wegweisenden Studie des Luzerner Historikers Manuel Menrath aus dem Jahr 2015, für die ich das Vorwort verfassen durfte, wusste ich aber, wie in den USA mit der indigenen Bevölkerung umgegangen wurde. Darum konnten die jüngsten Meldungen aus Kanada im Nachhinein leider keine Überraschung sein. Wie kann die Kirche die Verantwortung für den Tod indigener Kinder in kanadischen Klosterschulen übernehmen? Die Kirche hatte in den USA und Kanada leider die damals verbreitete Irrmeinung vertreten, die indigene Kultur sei minderwertig, die indianische Bevölkerung müsse zu «guten Weissen» umerzogen werden. Diese Ideologie basiert auf einem verheerenden Eurozentrismus, wie ich in dem besagten Vorwort geschrieben habe. Man ging davon aus, unsere europäische Kultur sei überlegen und besser, was zu den grauenhaften Folgen führte. An der «Indianermission» in den USA waren auch Ordensleute aus der Schweiz beteiligt, auch ein ehemaliger Benediktiner aus Einsiedeln. Deshalb haben wir die Verantwortung, alles dafür zu tun, um das getane Unrecht aufzuarbeiten und vor allem auch zu bezeugen, dass es ein schlimmes Unrecht war, das diesen Menschen angetan wurde. Für Einsiedeln ist zwar keine Verbindung nach Kanada bezeugt. Aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, zur Aufklärung so weit als irgend möglich beizutragen. Wie konnte es passieren, dass so viele Kinder in kanadischen Schulen starben? Der Staat wollte die Umerziehung der jungen Indigenen, was er auch finanziert und gesetzlich abgesichert hat. Diese Internate wurden vom Staat selbst geführt oder den Kirchen anvertraut. Die katholische Kirche hatte die meisten Schulen, da diese Konfession in Kanada die grösste war. Die meisten Kinder, die ihren Eltern weggenommen wurden, starben an europäischen Infektionskrankheiten, für die ihr Immunsystem nicht vorbereitet war. Was lösen in Ihnen diese Geschichten aus? Es ist beschämend zu sehen, wie die Kirchen diese Haltung unterstützten, die abendländische Kultur sei der einheimischen absolut überlegen. Es fehlte jeder Respekt vor der Lebensart der Ureinwohnerinnen und Ureinwohner. Dazu kam der Eifer der Missionare, «Seelen zu retten». Darum kam es zu dieser Zwangs-Christianisierung. Wären Zahlungen seitens der Kirche als Bussgeld für das Leiden der Indianer eine adäquate Reaktion? Die Kirche kann sich nicht billig freikaufen. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für das, was in der Vergangenheit geschah. In welcher Form Wiedergutmachungen möglich und sinnvoll sind, muss vor allem die Kirche in Kanada und den USA entscheiden, gemeinsam mit dem Staat und den Opfern. Dabei sollte es nicht nur um Geld gehen, sondern auch um Anerkennung des Unrechts, um Anerkennung der wertvollen indianischen Kultur und um die Förderung von Projekten zum gegenseitigen Verständnis der Kulturen. Wie kann das Mutterkloster Einsiedeln den Spuren ihrer Mönche in Nordamerika nachforschen? Wir wissen vom ersten Abt unseres Tochterklosters St. Meinrad in den USA. Er hiess Martin Marty. Über ihn erschien das oben erwähnte Buch. Nach seiner Zeit als Abt wurde er Bischof in Dakota und war dort führend bei der Missionierung des Volkes der Sioux. In meinem Vorwort schreibe ich zum Umgang mit diesem Volk, dieser stehe aus heutiger Sicht «der Botschaft des Evangeliums und auch der benediktinischen Spiritualität diametral entgegen ». Damit habe die Kirche mitgeholfen, diese einheimische Kultur respektlos zu zerstören. Diese historische Schuld müssen wir als Kirche anerkennen. Was können Sie im Kloster Einsiedeln heute für die Aufarbeitung dieser Geschichte tun? Sind im Klosterarchiv in Einsiedeln darüber bereits Forschungen betrieben worden? Selbstverständlich. Der Autor des Buches arbeitet eng mit uns zusammen. Leider findet sich in unseren Archiven fast nichts dazu ausser wenige persönliche Briefe dieses Mönchs Martin Marty. Als er mit seiner «Indianermission » begann, war er schon lange weg von Einsiedeln und auch von unserem Tochterkloster in den USA. Es braucht aber noch weitere Forschung, vor allem in Nordamerika. Mit meinen Verbindungen kann ich wenigstens für die USA weitere Forschungen anstossen oder deren Anerkennung erleichtern. Es gibt zum Beispiel schon ein Forschungsprojekt zum Thema, das von einem amerikanischen Tochterkloster von Engelberg gemeinsam mit Indigenen durchgeführt wird. Zudem hoffen die Indigenen zu Recht auf eine Entschuldigung durch die katholische Kirche. Vielleicht finde ich ja Wege beizutragen, dass dies auch wirklich geschieht. Ist es rechtens, die Aufarbeitung der Fälle an die Kirche vor Ort in den USA und Kanada zu delegieren? Das tut niemand! Alle irgendwie mit dieser leidvollen Geschichte Verbundenen müssen zu ihrer Verantwortung stehen, ihren Beitrag zur Aufarbeitung leisten. Auch das Kloster Einsiedeln, selbst wenn wir nur indirekt damit in Verbindung standen. Wie ist man dazu gekommen anzunehmen, dass die unzivilisierten Indigenen am allein selig machenden Glauben der katholischen Kirche genesen könnten? Dazu führte der fatale Irrglaube, die europäische Kultur sei der indigenen Kultur überlegen, weshalb die indianische Bevölkerung zu «guten Weissen» umerzogen werden müsste. Übersteigert wurde das noch dadurch, dass die entsprechenden Kirchenleute der Überzeugung waren, dadurch «die armen Seelen» zu retten. Dies galt aber nicht nur für die katholische Kirche, auch zahlreiche protestantische wetteiferten dabei mit. Bisweilen teilten sie regelrecht die indianischen Missionsgebiete unter sich auf – so, wie es einst die Eroberer taten. Im Hintergrund ging es natürlich vor allem auch darum, das Land der Indianer an die weissen Siedler zu verteilen. Hier waren die Politik und die Regierungen die treibenden Kräfte, die Kirchen waren ihre willigen Gehilfen. Leider! Hinterfragen Kirche und Orden ihren Klerikalismus, der dem einstigen Missionsverständnis zugrunde liegt? Es geht nicht um Klerikalismus, sondern um das Überlegenheitsgefühl der Weissen gegenüber den Indigenen. Dies umfasste auch die Religion. Wir müssen heute vor allem eines aus dieser schlimmen Geschichte lernen: Niemand darf jemand anderem seine Kultur und Überzeugung aufzwingen! Recht verstandene Mission kann nur auf Freiheit basieren und muss die Freiheit jedes Menschen stärken, auf das eigene Gewissen zu hören. Dies ist auch das oberste Leitziel unserer Schule in Einsiedeln.

Das Kloster Einsiedeln ist das Mutterkloster von St. Meinrad Archabbey, Indiana (USA): Dieses Tochterkloster wurde im Jahr 1854 gegründet.

Foto: Wolfgang Holz

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