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«Der Mut fehlte komplett!»

«Der Mut fehlte komplett!» «Der Mut fehlte komplett!»

Interview mit Fussballspielerin Sandra Kälin über das Schweiz-Debakel bei der Euro – und Männerfussball

Nach dem 0:3-Debakel der Schweiz gegen Italien bei den Europameisterschaften ist Wunden lecken angesagt. Im Interview sagt Fussballspielerin Sandra Kälin aus Einsiedeln, wie sie dieses Spiel erlebt hat, und wie die Schweiz wieder in die Erfolgsspur zurückkehren kann.

WOLFGANG HOLZ

Frau Kälin, wie geht es Ihnen?

Mir gehts gut. Ich erlebe derzeit eine sehr intensive Zeit. Seit Corona gibt es einen Riesenboom bei den Personaltrainings, die meine Firma anbietet – weil man die meisten Aktivitäten draussen machen kann, und es sich jeweils um eine geringe Teilnehmerzahl handelt. Corona hat mein Leben allgemein nicht so stark beeinträchtigt, da ich so oder so selten im Ausgang anzutreffen bin.

Kommen wir mal zum Fussball. Was sagen Sie zu dem 0:3-Debakel der Schweizer Nati gegen Italien? Italien ist sicher der schwierigste Gegner in der Gruppe. Schwerwiegender ist deshalb natürlich, dass man gegen Wales Punkte liegengelassen hat. Grundsätzlich hat mir bei den Schweizer Spielern die Leidenschaft gefehlt und vor allem auch komplett der Mut. Ihre Einstellung zum Spiel hat nicht gepasst, und sie sind nicht ans Limit gegangen.

Wie konnte das passieren, schliesslich hat die Schweiz ja in den letzten Jahren eigentlich einen schön anzusehenden und erfolgreichen Fussball gespielt und bewiesen, dass sie immer besser geworden ist? Also, ich finde, man muss immer noch realistisch bleiben. Die Schweiz ist bei Europameisterschaften und Weltmeisterschaften nie weiter als bis ins Achtelfinal gekommen. Mir fehlt grundsätzlich der Wille der Schweiz, in solchen Spielen alles zu geben. Da könnte man viel von den Italienern lernen.

Technisch und taktisch auf hohem Niveau, aber mental immer wieder instabil, wenn es darauf ankommt – könnte man so die Schweizer Nati charakterisieren?

Ja. Wobei der mentale Aspekt mir der Wichtigste auf diesem Level zu sein scheint. In diesen Bereich könnte man vielleicht auch noch etwas mehr investieren. Ich weiss beispielsweise nicht, ob die Schweizer Nati über einen Mentalcoach verfügt. Auch Mut ist schliesslich ein mentaler Aspekt. Was das Taktische anbelangt, muss man auch bemängeln, dass die Schweizer Nati oft zu defensiv agiert, zu wenig nach vorne drängt. Trainer Vladimir Petkovic stellt auch häufig immer die gleichen Spieler auf. Man merkt, dass die Spieler einen Einfluss ausüben bei der Mannschaftsaufstellung. Im Fernsehen wurde bemängelt, dass in der Mannschaft ein Leader, ein Leitwolf fehlt, wenn es hart auf hart geht. Sehen Sie das auch so? Ja, dabei bekunden ja gerade viele Spieler Ansprüche, diese Mannschaft führen zu wollen. Ich fand das so beeindruckend, wie etwa die dänische Mannschaft reagiert hat nach der Herzattacke von Christian Eriksen. Da hat der Kapitän alle Spieler sofort zusammengetrommelt, man ist zusammengestanden. Ich finde, man spürt oft nicht, dass die Spieler stolz sind, für die Schweiz zu spielen. Die Ansprüche einzelner Spieler stehen im Vordergrund, nicht die Mannschaft. Das finde ich schade. Der Vorwurf, der den Spielern manchmal gemacht wird, dass sie zuviel Geld verdienen, sticht meines Erachtens nicht. Geld hin oder her: Fussball ist eine Frage der Leidenschaft. Wie kann die Schweiz aus Ihrer Sicht jetzt wieder gegen die Türkei in die Erfolgsspur zurückfinden?

Im Spiel gegen die Türkei geht es sicher nur noch um alles oder nichts. Ich glaube, die Schweizer Nati hat das verstanden und wird offensiveren und mutigeren Fussball spielen. Die Türkei hat bisher ja auch noch nicht so gut gespielt. Andererseits muss man sagen: Wenn die Nati es nicht schafft, gegen die Türkei zu gewinnen, dann fährt sie berechtigterweise wieder nach Hause. Ich denke aber, dass die Nati mit dem Druck, der jetzt herrscht, umgehen kann und die drei Punkte holt. Haben Sie ähnliche Erfahrungen in Ihrer Karriere gemacht? Ich bin in meiner Zeit als Fussballspielerin in den USA vor allem mit dem K.-o.-Prinzip konfrontiert worden. Man geht dann mit einer anderen Einstellung an solche wichtigen Spiele ran. Vielleicht sollte die Nati sich mehr mit so einer K.-o.-Mentalität anfreunden, als sich gleich beim ersten Spiel auszurechnen, mit wie viel Punkten man weiterkommt.

Sie spielen derzeit als einzige Frau in der Ü30 in der Promotionleague beim FC Wädenswil mit. Wie ist das für Sie als Frau, und ticken Männer eigentlich anders als Frauen auf dem Fussballplatz?

Ich habe in der Jugend in Einsiedeln sieben Jahre immer mit Buben auf demselben Niveau zusammengespielt. Das war für mich nie ein Problem. Grundsätzlich gibt es ja beim Frauenfussball weniger Diskussionen und weniger Theatralik auf dem Platz als bei den Männern. Bei meinen jetzigen Ligaspielen waren die Männer anfangs entweder überhart oder etwas distanziert. Nach zweieinhalb Jahren, nachdem man weiss, dass ich mithalten und Tore schiessen kann, werde ich gleichbehandelt – was ich sehr schätze. Es entstehen immer wieder spannende Momente, manchmal glaube ich sogar, dass die Männer anständiger miteinander umgehen, wenn ich mitspiele. Der Umgang in meiner Mannschaft ist sehr unkompliziert, und wir geniessen die Zeit, zusammen Fussball spielen zu können. Nach der langen Corona Pause sogar noch etwas mehr wie vorher.

Kälin in Action: Zumeist spielt sie auf dem linken Flügel. Fotos: zvg

Die aus Trachslau stammende Sandra Kälin spielt als einzige Frau in einer Männermannschaft mit.

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