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«Wir treffen in Einsiedeln – ein»

Beobachtungen eines automobilen Pendlers, der derzeit auf den Zug angewiesen ist

Fast alle Wege führen ins Klosterdorf: Wer mit dem Auto von Baar nach Einsiedeln pendelt, findet paradiesische Verhältnisse vor. Die Zugverbindung ist auch nicht schlecht, aber …

WOLFGANG HOLZ

«Der Regionalexpress nach Chur hat vier Minuten Verspätung und fährt auf Gleis drei statt auf Gleis vier ein», tönt die Stimme der Lautsprecherfrau am Bahnhof in Thalwil. Vier Minuten später? Das wird dann wohl knapp mit dem Anschlusszug nach Einsiedeln. Ab «Wääädenswil». Die Lautsprecherfrau dehnt das «Ä» im Namen der schön am Zürichsee gelegenen Gemeinde immer so, dass es sich mir mittlerweile ins akustische Bewusstsein eingebrannt hat. Eigentlich habe ich nichts gegen Wädenswil. Im Gegenteil. Als grosser Verehrer von Robert Walser habe ich dessen Roman «Der Gehülfe», der ja in Wädenswil handelt, schon zweimal mit grossem Vergnügen gelesen. Aber wenn man schon im Voraus weiss, dass einem der Zug nach Einsiedeln in Wädenswil wieder einmal vor der Nase wegfährt, kann das gute Verhältnis zu diesem Ort irgendwie nachhaltig gestört werden. «Komme später ins Büro …»

Inzwischen sind es nicht nur vier Minuten später, als der Regionalexpress endlich in Thalwil eintrifft, sondern acht. Das bedeutet Entwarnung. Denn nun hilft nicht einmal mehr das Treppab- Treppauf-Gerenne von Gleis 3 auf Gleis 1 in Wädenswil, um die SOB nach Einsiedeln noch zu erreichen. Nun ist eine halbstündige Kaffeepause mit Weggli auf dem Perron angesagt. Mit Gratisseeblick und Frischluftzufuhr. Nicht zu vergessen: den Anruf bei den Kollegen im Einsiedler Büro, man komme eben eine halbe Stunde später. Eigentlich ganz chillig.

Trotzdem. Ich sehne mich wirklich sehnlichst nach meinem Auto. Noch genau vier Wochen muss ich aushalten – sprich: mit dem Zug morgens von Baar nach Einsiedeln pendeln. Gut, ich habe mir diesen Zustand selbst zuzuschreiben. Schliesslich bin ich mit dem Auto einmal zu schnell gefahren und habe deshalb drei Monate lang keinen Führerausweis. Nun muss ich es eben ausbaden. Geschieht mir ganz recht.

Die Monotonie des Weges Denn aus der Sicht eines automobilen Pendlers ist die Fahrt nach Einsiedeln mit dem Zug beschwerlich. Umständlich. Ermüdend. Das fängt bei den Kosten an. 292 Franken muss ich für ein Monatsabo von Baar nach Einsiedeln als sonst nie den Zug nutzender Autofahrer ohne Halbtax bezahlen. Für 292 Franken Benzingeld könnte ich im Monat weiss Gott wohin pendeln …

Doch schwerer wiegt eigentlich aus der Sicht des Autofahrers – der natürlich auch noch die Anschaffungskosten seines Wagens, die Fahrzeugsteuern, die Versicherungsgebühren und die Folgekosten der Umweltbelastung in seine Kalkulation miteinberechnen muss – die Monotonie des Weges. Selbst wenn ich auf dem Bahnhof im tristen Thalwil schon über den romantisch von der Abendsonne geröteten Tödi-Gipfel ins Schwärmen geraten bin.

Drei Routen mit dem Auto Während man nämlich von Baar nach Einsiedeln mit dem Auto grundsätzlich zwischen vier Fahrtrouten wählen kann, von denen sage und schreibe drei sogar sehr zügig und zumeist staufrei in 30 Minuten bequem zu bewältigen sind – über Menzingen- Hütten/Oberägeri-Raten/ Hirzel-Schönenberg – gibt es mit dem Zug beziehungsweise mit dem öV eben nur eine einzige Route: Baar–Thalwil– Wädenswil–Einsiedeln. Und dafür braucht man auch noch, der hügeligen Topograpfie und dem Umstand des zweimaligen Umsteigens geschuldet, fast die doppelte Zeit: 56 bis 58 Minuten. Wobei der Reisende wiederum viele Minuten gar nicht fahrend, sondern auf dem Perron wartend und stehend verbringt.

Das Allerschlimmste ist: Der Zugpendler, der eine Nachteule ist, muss für diesen Umweg täglich auch noch eine halbe Stunde früher aufstehen. Darüber hinaus muss man im Zug in Zeiten der Pandemie ständig eine Maske tragen – während es sich im Auto pandemiesicher und atemfrei durch die Landschaft gondeln lässt.

Die ständige Platzsuche

OK. Als jemand, der gerne liest, versuche ich immer wieder, mich auf den einzelnen Routenabschnitten – zweimal je rund 15 Minuten und einmal gut 20 Minuten lang – in ein Buch zu vertiefen. Und zu entspannen. Aber so richtig Spass macht das nicht. Zu viele Unterbrechungen rauben einem die Konzentration: Chronische Huster, Schaffner, sich vorbeizwängende andere Pendler. Ganz zu schweigen davon, dass es wegen den Corona-Abstandsregelungen- und -empfehlungen gar nicht so einfach ist, überhaupt einen angenehmen Platz mit Abstand zu ergattern. Oft stehe ich einfach im Gang vor der Tür. Halb schlafend.

Sitzt der automobile Zuggast wirklich mal gemütlich und drückt sich zufrieden in den blauen oder roten Plüsch, wird er plötzlich aufgeschreckt durch obskure Geräusche. Beispielsweise rummst die SOB zwischen Biberbrugg und Schindellegi bei fast jeder Fahrt an der gleichen Stelle, als ob am Zug ein Sprengsatz detoniert. Anderswo ruckt und ruckelt es. Dann wiederum steht der Zug an manchen Stellen minutenlang mutterseelenallein – bis endlich der Gegenzug eingefahren ist.

Bleierne Stille

Vor allem aber wirkt die bleierne Stille der Fahrgäste, die oft unter Kopfhörern, in Laptops oder im Smartphone versunken auf ihrem Platz ausharren, gespenstisch. Irgendwie belastet sie das Gemüt. Privatsphäre steht an oberster Stelle in öffentlichen Verkehrsmitteln – gerade in Corona- Zeiten. Einmal hat mich eine dieser unzähligen jungen Frauen mit weissen Sneakers im Zug angesprochen: «Du kannst dich schon hierher setzen», sagte sie und deutete auf den Platz neben sich. Das war sehr freundlich von ihr. Ich bin trotzdem lieber auf der freien Gepäckablage sitzen geblieben.

Wenn man dann endlich Einsiedeln erreicht, gibt einem die holprige Ansage der Lautsprecherstimme «Wir treffen in Einsiedeln – ein. Endstation» quasi den letzten Schubs aus dem Zug. Eine Art rhythmisierter Rap zum Abschied. «Wir treffen in Einsiedeln – ein!» «Wir treffen in Einsiedeln – ein!» Yeah!

«Du kannst dich schon hierher setzen.»

Junge Frau im Zug

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