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«Nur die Pocken konnten aus der Welt ausgemerzt werden»

«Nur die Pocken konnten aus der Welt ausgemerzt werden» «Nur die Pocken konnten aus der Welt ausgemerzt werden»

«Das Coronavirus verbreitet sich und macht die Menschen krank», sagt der 56-jährige Antoine Chaix, Hausarzt und SP-Kantonsrat aus Einsiedeln: «Die Massnahmen, um dessen Verbreitung einzudämmen, polarisieren. Wegen deren bisher nie gesehenen Radikalität.»

MAGNUS LEIBUNDGUT

Wann kommt die dritte Welle?

Der Verlauf der Pandemie wird nun durch so viele Faktoren und Massnahmen beeinflusst, dass es wohl kaum möglich ist, ihn vorauszusagen. Allerdings denke ich, dass die aktuelle Situation eher einem mehr oder weniger hohen, künstlich mit grossem Aufwand gesenkten Meeresspiegel entspricht als eigentlichen Wellen.

Sind falsche Corona-Prognosen eine Manipulation im Namen der Wissenschaft? Ich denke nicht, dass die Prognosen bewusst manipuliert werden, aber als falsch erweisen sie sich tatsächlich seit Längerem. Dass dabei immer wieder das Worst-Case-Scenario in all seinen Facetten angedroht wird, hilft sicher, die drastischen Massnahmen durch die dadurch generierte Angst eher akzeptieren zu lassen. Dass dies längerfristig keine gute Strategie ist, scheint zum Glück langsam durchzusickern.

Kann Corona besiegt werden, wenn in Ländern Afrikas die Impfquote ein Prozent beträgt? Ich staune, dass in den Köpfen gewisser Entscheidungsträger tatsächlich die Vorstellung zu bestehen scheint, Corona «besiegen » zu können. Nur gerade die Pocken konnten aus der Welt ausgemerzt werden. Sogar eine Erkrankung mit gut funktionierendem, billigen Impfstoff wie die Kinderlähmung ist viele Jahrzehnte nach dem Beginn weltweiter Impfkampagnen noch nicht vollständig «besiegt». Dann kann also das Coronavirus gar nicht ausgemerzt werden? Es gibt viele Länder in Afrika mit beschränkten Mitteln, die für das Virus ein Reservoir darstellen: Diese Länder müssen die spärlichen Ressourcen doch für mindestens so tödliche Krankheiten wie Malaria oder andere einsetzen. Zwar scheint Australien vorerst Corona-frei zu sein, allerdings ist dieser künstlich mit drastischen Einreisebestimmungen auf einem Inselkontinent erreichte Zustand eine momentane, auf die Dauer nicht aufrechtzuerhaltene Illusion. Diese Vorstellung ist realitätsfremd und naiv. Was spricht dagegen, dass ärmere Länder die Covid-Impfstoffe selber produzieren dürfen?

Aus meiner ethisch-humanitären Sicht nichts. Schon in den 2000er-Jahren hat sich die Pharmaindustrie mit Händen und Füssen dagegen gewehrt, dann schon verfügbare antiretrovirale Medikamente gegen AIDS in Afrika anwenden geschweige denn herstellen zu lassen, obwohl die AIDS-Pandemie Afrika wesentlich härter traf als der Westen. Dies mit der Begründung, dass die beschränkten medizinischen Möglichkeiten in solchen Ländern zu Resistenzen führen würden. Erst als mit grossem Aufwand der humanitären Organisationen dies widerlegt werden konnte, konnten Generika eingeführt und angewendet werden. Ein ähnliches Szenario könnten wir jetzt wieder haben.

Wieso steigen in Inselstaaten mit weltweit höchsten Impfquoten die Corona-Fallzahlen? Das weiss ich nicht. Ich kenne die Umstände dafür viel zu wenig. Nebst der äusserst fraglichen Bedeutung nackter Fallzahlen zeigt es allerdings vielleicht auch, dass das lineare Denken, gute Durchimpfung sei gleichbedeutend mit einem Ende der Pandemie, zu vereinfachend ist.

Aus welchem Grund sind in der Schweiz die Fallzahlen nach Einführung der Maskenpflicht gestiegen und sinken nach Lockerungen der Massnahmen? Der Kausalzusammenhang kann so nicht direkt hergestellt werden. Er ist aber insofern erwähnenswert, als die Wirkung der einzelnen Massnahmen unmöglich in der grossen Feldstudie, in der wir uns befinden, bewiesen werden kann. Es sei hier nochmals aufgeführt, dass die Grippeepidemie dieses Jahr praktisch ausgefallen ist und auch sonst Infekte der Atemwege diesen Winter eindrücklich selten waren. Es fehlen echte, unverfälschte Kontrollmöglichkeiten, und es gibt viel zu viele Unbekannten in dieser Gleichung. Allen voran die wichtigste Variable: Der Faktor Mensch. Erst jetzt, da wir den Lockdown in umgekehrter Reihenfolge durchmachen, werden wir vielleicht erfahren, welche Massnahmen nicht nötig gewesen wären … Waren die Massnahmen angebracht und zielführend? Wie gesagt wird der weitere Verlauf diese Frage retrospektiv vielleicht teilweise beantworten können. Ich bleibe aber dabei, dass die Balance zwischen dem Leid, der durch die Massnahmen verhindert werden konnte und dem, der dadurch verursacht wurde, global nicht gefunden wurde. Dies wird zwar sehr langsam korrigiert, was auch dank der Impfung sicher besser möglich sein wird. Ob sie zielführend waren oder sind, kann ich jetzt aber nicht beantworten, da ich das Ziel selber nicht mehr kenne. Ich habe nämlich das Gefühl, dass die ursprüngliche, nachvollziehbare Absicht, einen Kollaps (eines Teils) des Gesundheitssystems zu verhindern, mehr und mehr der unrealistischen Vorstellung weicht, den Virus aus der Welt schaffen zu wollen. Oder zumindest aus der unsrigen … Ist es rechtens, dass ein Demonstrationsverbot wegen Corona verhängt wird? Ich bin nicht Jurist und kann diese Frage somit nicht korrekt beantworten. Es ist aber sicher so, dass es äusserst schwierig ist, einen konstruktiven Dialog über Corona zu führen. Dabei sind Demonstrationen nur die Spitze des Eisbergs. Noch wichtiger wäre ein breiter Austausch zwischen Politikern, Wissenschaftlern und Bürgern fernab von Polarisation, Verschwörungstheorien und deren Repression. Dies vermisse ich nach wie vor. Wieso werden just in der Diskussion rund um das Coronavirus Andersdenkende diffamiert und ausgegrenzt? Die Polarisierung ist eines der Probleme. Und ebenso der enorme Druck, in dem die Entscheidungsträger sind, die keinerlei Widerrede zulassen, da sonst die unvorstellbaren Konsequenzen ebenfalls infrage gestellt würden… Ich hoffe aber, dass diese Entwicklung zumindest in der Schweiz eine langsame Korrektur erfährt…

Ist es möglich, dass das Coronavirus aufgrund der Impfungen mutiert und resistent wird und dass denn eine kontraproduktive Wirkung eintritt?

Nein, es ist nicht der gleiche Mechanismus wie die Restistenzentwicklung von Bakterien bei unsachgemässem oder repetitivem Gebrauch von Antibiotika. Der Virus mutiert spontan, so wie wir es von der Grippe kennen. Dabei kann dann die Grippeimpfung je nach Mutation mehr oder weniger gut wirken. Dies wird auch ein zentraler Punkt sein, der über den weiteren Effekt der Impfungen entscheiden wird.

Bedeutet eine überhandnehmende Impfpflicht ein schleichendes Obligatorium, das die Gesellschaft spaltet? Das ist tatsächlich eine Besorgnis, die ich teile. Es gibt bei der Impfung den individuellen Aspekt des Schutzes von Risikopatienten. Dieser Aspekt hat auch einen über den individuellen Schutz hinausgehenden Effekt, da geimpfte Risikopatienten tatsächlich weniger schwere Verläufe zu haben scheinen. Somit kann das Ziel, Intensivstationen nicht an ihre Grenzen zu bringen, zusätzlich erreicht werden. Dann gibt es den rein epidemiologischen Grund, dass gesunde, jüngere Menschen, die an sich ein sehr geringes Risiko eines schweren Verlaufs haben, es nur auf sich nehmen sollten, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Das führt uns zurück zur Frage des Ziels: Wollen wir «nur» die schwersten Verläufe abfangen und einen Kollaps des Systems vermeiden oder das Virus besiegen? Ersteres indem wir uns auf den direkten Schutz der Risikopatienten konzentrieren, Letzteres indem kaum Gefährdete sich impfen lassen müssen. Wenn dies auf Kosten der eigenen Entscheidungsfreiheit geht, finde ich das mehr als diskussionswürdig.

Wie ist es möglich, dass ein so winziges Halbwesen wie ein Virus unsere Lebensgesellschaft derart zu polarisieren vermag?

Das Virus polarisiert nicht. Es verbreitet sich lediglich und macht Menschen krank. Die Massnahmen, um dessen Verbreitung einzudämmen, polarisieren. Wegen deren bisher nie gesehenen Radikalität. Und die sind menschengemacht. Wie erklären Sie sich den Umstand, dass die Medien und Zeitungen so einseitig und unkritisch informieren? Das hat mich enttäuscht. Die wichtige Rolle der hinterfragenden Presse habe ich vor allem in den grossen Medien vermisst. Ich muss aber auch anfügen, dass ich persönlich nie eine Ermahnung oder kritische Rückmeldung aus offizieller Seiter erhalten habe – trotz immer wieder (vor allem in der Regionalpresse wie jetzt) erschienenen kritischen Artikeln oder Beiträgen. Die Meinungsfreiheit erachte ich in der Schweiz nach wie vor als gegeben. Umso überraschter bin ich, dass nicht mehr davon Gebrauch gemacht wird … Ist es einfach dem Kommerz gedient, Panik und Paranoia zu verbreiten, statt Fakten anzuerkennen und zu akzeptieren? Ich glaube weniger an grosse Pläne des Kommerzes als an eine ungünstige Dynamik, in der die Entscheidungsträger gefangen sind. Je länger die Pandemie dauert, je mehr Geld zu deren Bekämpfung eingesetzt wird, umso schwieriger wird eine Kurskorrektur. Auch ist sicher Angst das wirksamere Mittel, um die drastischen Massnahmen durchzusetzen, als das Verständnis dafür. Umso mehr, als dass einige Massnahmen ja schwer bis nicht nachvollziehbar sind … Immerhin wurden beim letzten Öffnungsschritt vom Bundesrat die eigenen Spielregeln übergangen, was einer zaghaften Relativierung des bisherigen Kurses gleichkommt. Wäre es nicht angebracht, dass wir dieses Virus als einen Teil des Lebens annehmen können, als Ausdruck dieses Universums, als Schicksal des Kosmos?

Das finde ich der wichtigste Aspekt im Ganzen. Das Virus ist tatsächlich Teil einer natürlichen Entwicklung, mit der wir uns als Menschheit auseinandersetzen müssen, die wir aber nicht ungeschehen machen können. Soviel Realitätssinn sollten wir haben. Und so viel Bescheidenheit.

«Ich staune, dass tatsächlich die Vorstellung zu bestehen scheint, Corona besiegen zu können.» «Es braucht einen Austausch fernab von Polarisation, Verschwörungstheorien und deren Repression.».

«Wenn Impfen auf Kosten der eigenen Entscheidungsfreiheit geht, finde ich das mehr als diskussionswürdig.

«Die wichtige Rolle der hinterfragenden Presse habe ich vor allem in den grossen Medien vermisst.

«Je länger die Pandemie dauert, umso schwieriger wird eine Kurskorrektur. «Angst ist das wirksamere Mittel, um die Massnahmen durchzusetzen, als das Verständnis dafür.» «Das Virus ist Teil einer natürlichen Entwicklung, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.»

Antoine Chaix ist SP-Kantonsrat aus Einsiedeln und Hausarzt. Foto: zvg

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