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Smart oder responsive zusammenleben?

Smart oder responsive zusammenleben? Smart oder responsive zusammenleben?

SEITENBLICK: FUTURE CITIES

GERHARD SCHMITT

Venedig 2021 – alle zwei Jahre findet dort die internationale Architekturbiennale statt. Dieses Jahr ist das Thema die noch offene Frage für die Zeit nach Corona: Wie werden wir zusammenleben? Auf der anderen Seite der Welt, in Shenzhen, China, wo die meisten unserer elektronischen Geräte produziert werden, scheint die Antwort schon klar: Künstliche Intelligenz soll das Zusammenleben in der «Smart City» bestimmen.

Diese Art ist einmalig

Und wie ist es in Einsiedeln? Für die meisten Einsiedler ist es ein gewohntes Bild: die Bezirksgemeinde in einem grossen Saal, viele Bürgerinnen und Bürger erscheinen, es ist gelebte direkte Demokratie. Doch mir erschien die letzte Bezirksgemeinde im Dezember im Dorfzentrum fast wie ein Weihnachtswunder. Nirgendwo seit Beginn der Corona- Zeit hatte ich eine so grosse Ansammlung von Menschen gesehen, die interessiert und aktiv mit dem notwendigen Abstand am Leben der Gemeinde teilnahmen und es mit-bestimmten. Die Traktanden waren klar und der Bezirksrat bestens vorbereitet. Die Fragen waren höflich und gezielt, die Antworten präzise. Die Aufnahme neuer Mitbürgerinnen und Mitbürger am Ende, ihre Begründungen und der Applaus der Gemeinde waren eindrücklich, einfach Weltklasse.

Vielleicht war es die lange Zeit im Ausland und die Kenntnis vom Umgang anderer Kulturen mit den Prozessen der lokalen Verwaltung, vielleicht war es die besondere vorweihnachtliche Stimmung. Auf jeden Fall wurde mir klar, dass diese Art von Gemeinwesen und von gemeinsamem Regieren einzigartig ist. In den anderen Orten, in denen ich gelebt hatte, waren die Personen zwar oft informiert, konnten aber nicht wirklich in Echtzeit fragen und mit-bestimmen. Das Einsiedler Modell dagegen bietet die Möglichkeit, Vorschläge mit mehr als nur Ja oder Nein zu beantworten – sogar oder besonders in Corona Zeiten.

Städte mit solch echter Partizipation bezeichnen wir als «Responsive Cities». Es sind Gemeinwesen, in denen die Bürgerinnen und Bürger im Zentrum des Handelns stehen. Damit ist Einsiedeln attraktiver als viele «Smart Cities», in denen sie eher Subjekte der Beobachtung sind, in denen mit Gesichtserkennung undÜberwachung ihrer Smartphones jeder Schritt und Tritt verfolgt und ihr Verhalten mit Hilfe Künstlicher Intelligenz gesteuert werden soll.

Einsiedeln ist also bereits «responsive » und mehr als nur «smart»: Die Bürgerinnen und Bürger bestimmen weitgehend, was und wie die Regierung entscheidet. Sie sind gleichzeitig informiert und verantwortlich: Sie nutzen neueste Technologie, sie nehmen individuelle Verantwortung auf sich und sie tragen Verantwortung für das Gemeinwohl. Diese Kombination hat unschätzbaren Wert für das Zusammenleben in einem Gemeinwesen.

Der Jugend Vorbild sein

Die verantwortungsvolle Freiheit und Autonomie der Einzelnen – ein anderes Wort für «Responsiveness» – ist ein hohes Gut. Wir müssen es unbedingt weiter entwickeln und an die nächsten Generationen weitergeben. Wie schaffen wir das? Am besten durch Vorbild und durch Investitionen in und für die Jugend, so dass sie neue Gemeinschaften bilden und Verantwortung übernehmen kann. Tragen wir Sorge, dass wir für diese zukunftssichere Form des Zusammenlebens die erforderliche Infrastruktur bauen und den Freiraum für Weiterentwicklung lassen.

Einsiedeln zeichnet sich durch eine grosse Zahl von Aktivitäten,Vereinen und Kulturveranstaltungen aus. Das Engagement der Einzelnen ist bewundernswert. Natürlich sind wir alle bedacht auf ein gutes Leben und das eigene Fortkommen, aber es geschieht meist mit Blick auf das grössere Ganze und mit Leistungen für andere. Hier bewegt sich der Mensch im Zentrum, aber nicht nur auf sich selbst bezogen, sondern vernetzt in einem komplexen System, das den Altruismus hoch bewertet. Dies fördert Innovation, Tradition und Wohlstand. Es macht unsere Region attraktiv und widerstandsfähig, wie die Pandemie zeigt.

Wenn Einsiedeln als «Responsive City» diese Art des informierten, kreativen und verantwortungsvollen Zusammenlebens weiter ausbaut, gibt es keinen Grund, sich um die Zukunft zu sorgen, denn wir gestalten sie selbst.

Professor Emeritus für Informationsarchitektur, ETH Zürich. 2010 Gründungsdirektor Singapore- ETH Centre; Mitentwickler des Future Cities Laboratory in Singapur. Seit 2017 Forschungsleiter für Cooling Singapore. Seit 2005 Entwicklung der Informationsarchitektur im urbanen und territorialen Massstab an der ETH Zürich und in Asien.

Studien in München, Los Angeles und Berkeley. 1988 Berufung an die ETH Zürich. Zuvor Associate Professor an der Carnegie Mellon Universität; Gastprofessor an der Harvard University. 1994 bis 1996 Vorsteher der Architekturabteilung der ETH Zürich. 1998 bis 2008 Vizepräsident der ETH Zürich für Planung und Logistik. 2000 Initiator des virtuellen Campus ETH World und 2003 des nachhaltigen Science City Campus der ETH Zürich. Für diese Arbeit erhielt er 2010 den europäischen Wissenschafts- Kulturpreis.

«Das Engagement der Einzelnen in Einsiedeln ist bewundernswert.

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