Veröffentlicht am

Illusionen

FANNY REUTIMANN

Einsiedeln hat gerade eine gewaltige Verwandlung hinter sich. Buchstäblich über Nacht. Plötzlich kann man wieder aus edlem Porzellan einen Kaffee schlürfen oder das Cüpli, wie es sich gehört, aus einem Glas nippen. Fertig mit kaltem Füdli von steinernen Treppenstufen, Espresso im Kartonbecher und Sandwich aus der Einwegverpackung. Juhui, Restaurants haben wieder geöffnet!

Was für ein herrlicher Anblick, all die Menschen an Tischen, Tischchen und tischähnlichen Konstrukten sitzen zu sehen.Allen ist die Zufriedenheit ins Gesicht geschrieben. Ich staune Bauklötze, wo es plötzlich überall möglich wurde, Tische aufzustellen.

Dieses Hochgefühl von Frühling und einem Stück zurückgewonnener Freiheit lasse auch ich mir nicht nehmen. Mit meinem Dani setze ich mich an prominenter Stelle hin und gemeinsam frönen wir über einer Tasse Kaffee einer lange vermissten Beschäftigung: Aus sicherer Warte vorbeiziehende Menschen kritisch mustern und gegebenenfalls über diesen und jenen lästern.

Ich lehne mich im bequemen Stuhl zurück, lasse mir einige Sonnenstrahlen auf die vorwitzige Nase scheinen und beginne, von einer autofreien Hauptstrasse zu träumen.Auch Dani, der als Ureinwohner besser weiss, wie man hierzulande tickt, lässt seinen Gedanken freien Lauf. Die Hauptstrasse als Flaniermeile – eine Vorstellung so entzückend wie undenkbar. Während wir uns ausmalen, wie wir die Hauptstrasse mit riesigen Pflanzgefässen und Lounges möblieren würden, dröhnt ein Pontiac schon zum dritten Mal nacheinander im ersten Gang die Hauptstrasse hoch. So viel zur Illusion einer gediegenen Flanierzone in Einsiedeln.

* Fanny Reutimann (56) lässt sich ihren Traum nicht nehmen, dass sie eines Tages mitten auf der Hauptstrasse einen Kaffee trinken kann, ohne überfahren zu werden.

Share
LATEST NEWS