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Das Monatsgespräch im März

Das Monatsgespräch im März Das Monatsgespräch im März

Franziska Keller trifft Florina und Raffael Tusa, erst grad aus Amerika angereist

Jahrgang: 1971/1966 Bürgerort: Zürich Geburtsort: Zürich Wohnort: Einsiedeln Gespannt warte ich vor dem Bücherschrank beim Paracelsuspark auf Raffael Tusa. Wir kennen uns noch nicht persönlich, haben ja erst telefoniert. Als mir ein Paar winkend entgegenkommt, nehme ich an, dass sie das sind. Lachend erzählt Raffael, dass er seine Frau Florina auch gleich mitnehmen wollte. Es wurde ein spannendes, offenes und berührendes Gespräch über Menschen und Kultur in Amerika, die sieben Jahre mit schönen und schwierigen Momenten «ennet dem Teich», und die Entscheidung, welche sie schlussendlich zur «schwarzen Maria», wie sie die Muttergottes liebevoll nennen, hierherbrachte.

Ich freue mich sehr, dass ihr beide heute bei mir seid. Gehts mit dem Deutschreden?

(Beide lachen) Problemlos.

Warum seid ihr vor über sieben Jahren nach Amerika ausgewandert?

Raffael: Wir haben in Rüschlikon gewohnt. Früher nannte man die gegenüberliegende Seite die Goldküste, doch mit der Zeit entwickelte sich die linke Seeseite mit Rüschlikon, Kilchberg und Thalwil Richtung «crazy». Am Samstagmorgen ging es ab wie im Automobilsalon und es fuhren Ferrari, Porsche und so weiter vor – man führte vor, was man besass. Wir fühlten uns immer unwohler, drehten uns konstant im Hamsterrad und wollten irgendwann dem dort wachsenden sozialen Druck entweichen. Ein internationales Projekt von meinem damaligen Arbeitgeber brachte uns in die USA.

Florina: Unsere beiden Mädchen Ada und Uma besuchten den zweisprachigen Kindergarten und die ersten Primarschuljahre.

Was hat den Ausschlag für Amerika gegeben und warum gerade Williamsburg? Raffael: Bei meiner früheren Arbeitsstelle hatte ich regelmässig geschäftlich in den USA zu tun. Im Sommer reiste meine Familie nach und wir waren schon immer fasziniert von dem Land mit dem vielen Platz, dem Klima, der Natur, den Menschen und dem dortigen Lifestyle. Es war das Gesamtpaket, das uns anzog. Dass wir dann in Williamsburg, Virginia, unser Glück versuchten, verdanken wir guten Freunden, deren Familie dort lebt.

Florina: Während wir schon in den USA lebten, verkauften wir mein Elternhaus. Raffael arbeitete vier Tage die Woche in New York und flog am Wochenende zu uns – damals war das Fliegen sehr günstig.

Raffael: Nach einem Jahr wechselte unsere Geschäftsleitung und mein neuer Vorgesetzter wollte, dass ich in die Schweiz zurückkehre. Zu einem Zeitpunkt, in dem wir uns ganz langsam an den Gedanken gewöhnt hatten, längerfristig zu bleiben, weil einfach viele Puzzleteile perfekt zusammenpassten. So entschieden wir uns, dass ich selbstständig arbeite und meine Frau übernahm ein Yogastudio mit mehreren Mitarbeitenden, womit wir die benötigten Visas und Arbeitserlaubnisse erhielten.

Was habt ihr in den USA besonders schwierig empfunden?

(Beide lachen wieder). Zu verstehen, was jemand sagt und was er damit auch wirklich meint. Diese Zweideutigkeit hat uns bis am Schluss Mühe bereitet und wir sind aus Naivität mehrmals auch über den Tisch gezogen worden.

Tiefere Freundschaften zu pflegen ist anspruchsvoll, weil viele Amerikaner und Amerikanerinnen Opportunisten und freundlich sind, dir aber nicht zu verstehen geben, was sie wirklich denken. Im ersten Moment kommen sie sehr schnell und mit offenem Herzen auf dich zu, das ist ihr normaler Umgang, daraus etwas zu erwarten, ist aber ein grosser Trugschluss.

Wie umschreibt ihr den typischen Amerikaner, die typische Amerikanerin? Florina: Der Amerikaner ist unglaublich verspielt und begeisterungsfähig. Und auffallend, jeder hat sein Spielzeug (sei dies ein tolles Auto, ein ausgeflipptes Hobby, Liebe zu den Pflanzen und so weiter) und keiner macht dem anderen etwas madig – etwa wegen Umweltschutz. So nach dem Motto: «Leben und leben lassen.» Der Amerikaner möchte sich nichts vorschreiben lassen.

Das Leben des Amerikaners scheint eine grosse Show. Darum sind sie ja auch Weltmeister im Showbusiness. Dies macht nicht mal vor der Kirche halt – sogar der Gottesdienst ist eine grossartige Show, ein Entertaining mit genialer Band und Chor. Und die Leute lieben diese Shows. Wir erlebten vor Corona Sonntagsgottesdienste mit 2000 Personen. Die Kirche hat einen ganz anderen Stellenwert als bei uns. Volle Kirche gleich guter Job. Es ist nicht nur der Gottesdienst, man kennt einander, holt sich vor dem Gottesdienst einen Kaffee, begrüsst sich herzlich, man fühlt sich da einfach willkommen. Es ist Treffpunkt und soziale Drehscheibe in der amerikanischen Gesellschaft. Ich habe die Bibelgruppe für uns Frauen besucht und sehr geschätzt, fühlte mich wirklich aufgehoben dort.

Raffael: Die Amerikaner haben ihre Mechanismen, damit sie funktionieren (man spricht nicht über Politik oder Religion, dafür umso mehr über Sport), welche durch die letzten Jahre mit Trump durcheinandergeworfen worden sind. Geld ist ein grosses Thema, Business kommt zuerst, Amerika ist sehr kapitalistisch, du musst immer auf der Hut sein, damit du nicht über den Tisch gezogen wirst, du kannst niemandem trauen. Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung ist arm, so wie wir uns das hier gar nicht vorstellen können. Das soziale Netzwerk ist sehr schwach und es ist die Gesellschaft selber – oft die Kirchen – die unterstützen. Corona war für viele arme Familien eine Katastrophe, denn die plötzlichen Schulschliessungen hatten zur Folge, dass viele Kinder das regelmässige, warme Mittagessen in der Schule nicht mehr bekamen. Und nun seid ihr wieder hier

Raffael: Nach drei bis vier Jahren begann es, schwierig für uns zu werden. Aber wir realisierten es erst im Nachhinein. Das Einkommen stimmte nicht mehr, wir kauften Land, weil wir ein Haus bauen wollten, mussten es wieder verkaufen und bekamen nur noch einen kleinen Teil des Geldes.

Durch eine blöde Fehlentscheidung verloren wir zusätzlich Geld, was sehr einschneidend war. Bei der neuen Jobsuche waren wir mit unserer Schweizer Mentalität zu wenig gnadenlos und auf einmal wollte irgendwie nichts mehr so richtig klappen – die Puzzleteile passten plötzlich nicht mehr.

Mit der baldigen Volljährigkeit unserer älteren Tochter Ada mussten wir für sie eine permanente Aufenthaltsbewilligung, die sogenannte Green card, beantragen und dafür ein präzises Programm durchlaufen. Das alles gingen wir entschlossen an, weil wir wirklich drüben bleiben wollten.

Dann kam Covid, was uns hart traf. Wir mussten im Yogastudio auf Online umstellen, wollten niemanden entlassen, unsere Finanzen wurden noch prekärer und ein Pfeiler nach dem andern brach ein. Wir waren sozusagen pleite und mit dem Visum wollte es durch die fehlenden nötigen Finanzen und der extrem langsam arbeitenden Immigrationsbehörde auch nicht mehr klappen. Amerika hat sich durch die Jahre verändert und ist sehr ausländerfeindlich geworden. Wir spürten richtig ihre Angst: «Ausländer nehmen uns die Jobs weg.» Durch Glück kamen wir bei einer Bekannten unter, nachdem uns das Haus wegen Eigenbedarf gekündigt worden war, und so hatten wir nicht mal mehr ein «Dihei». Das nagte an uns Vieren.

Ein Freund aus der Schweiz sagte mir: «Raffi, du bisch im Fall riich! Du bisch en Schwiizer. Chum zrugg.» Hier ist es sicher auch schwierig, aber hier funktioniert alles.

Wie haben eure Kinder auf diese Entscheidung reagiert?

Es war eine schwierige Zeit, in der auch viel gestritten wurde und Ada und Uma verarbeiteten die Situation auf ihre je eigene Art. Kurz vor der zweiten Welle haben wir unsere Sachen in einen Container gepackt, einen günstigen Flug gebucht und sind mit einer fast leeren Swiss-Maschine in die Schweiz geflogen.

Und was hat euch grad nach Einsiedeln gebracht? Raffael: Nach unserer Rückkehr Mitte November 2020 lebten wir übergangsweise bei einem Kollegen am «Rand der Welt» im Luzerner Seeland in Altwis. Ohne guten öV-Anschluss, zwischen zwei Seen, im Nebel. Wir peilten den Kanton Zug oder Schwyz an, wünschten uns Berge, Sonne und Natur.

Florina: Weil ich Einsiedeln aus meiner Kindheit in schönster Erinnerung hatte, schauten wir uns hier um und fanden eine wunderschöne Wohnung im Haus Falken.

Was ist euch wichtig?

Raffael: Wir sind hier erst mal fremd und wir müssen es uns verdienen, hier sein zu dürfen. Wenn du als Stadtmensch hierherkommst, musst du lernen, dass du nicht mehr anonym leben wirst, denn hier kennt man sich. Es ist wichtig, sich hier einzufügen. Wir schätzen es unglaublich, hier sein und alles entdecken zu dürfen – ist ja alles gut zu Fuss erreichbar. Jetzt dürfen wir in Ruhe ankommen und heilen. Das alles war unglaublich viel in den vergangenen Jahren.

Eure Vision für die Zukunft?

Wir wollen sicher die positiven Dinge, die wir in den USA erlebten, weiter pflegen. Zum Beispiel auf der Strasse jemandem spontan ein Kompliment zu machen – es kostet nichts, du hast aber garantiert jemandem einen schöneren Tag beschert!

Wir schreiben hier nun ein neues Kapitel in unserem Leben an einem speziellen Ort und beginnen von Null. Wir möchten hier nicht nur Ruhe und Natur finden, sondern uns auch aktiv in der Gemeinde engagieren, schliesslich sind wir im Herzen Abenteurer, unkompliziert und für ziemlich alles zu haben. Wir freuen uns auf viele spannende Begegnungen: Lernen, Leben, Lieben.

Foto: Franziska Keller

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