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«Rothenthurm ist keine Oase»

«Rothenthurm ist keine Oase» «Rothenthurm ist keine Oase»

Erich Camenzind, Pfarrer in Rothenthurm, sagt der Pfarrei nach zwölf Jahren Wirken Adieu

Pfarrer Erich Camenzind bricht auf zu neuen Ufern. Der 51-jährige Seelsorger blickt zurück auf seine Amtszeit in Rothenthurm und hält Ausschau auf sein Sabbatjahr, das er im Ausland verbringen wird: «Es ist ein guter Moment, um von Rothenthurm Abschied zu nehmen.»

MAGNUS LEIBUNDGUT

Was hat vor zwölf Jahren den Ausschlag gegeben, dass Sie ausgerechnet in Rothenthurm gelandet sind? Die Hand Gottes – oder vielmehr diejenige des Generalvikars: Martin Kopp unterbreitete mir damals Vorschläge, wo ich meine erste Pfarrstelle antreten könnte – nachdem der Bischof fand, nach einem vierjährigen Vikariat in Brunnen sei es an der Zeit für mich, dass ich eine Pfarrstelle in Angriff nehmen soll. Die Entscheidung habe ich letztlich dem Generalvikar überlassen. Nach welchen Kriterien sollte ich denn entscheiden? Die Grösse des Pfarrhauses, die Schönheit der Landschaft? Letztlich ist ja für das gute Gelingen entscheidend, mit welchen Leuten man zusammenarbeitet. Da muss man sich weitgehend überraschen lassen. Und Gott hat es gut gelenkt. Wieso verlassen Sie jetzt Rothenthurm?

Nicht Überdruss, kein Konflikt oder ein besseres Angebot. Es ist eine Entscheidung, die aus dem Gebet gewachsen ist. Ich habe gespürt: Es ist ein guter Moment, um von Rothenthurm Abschied zu nehmen. Wobei ich tatsächlich der erste Pfarrer von Rothenthurm bin, der weggeht: Meine Vorgänger sind alle in Rothenthurm geblieben und hier begraben worden. Ich hoffe denn, dass ich bis im Sommer noch am Leben bleibe … (lacht).

Sie fanden damals bei Ihrem Amtsantritt, nicht jeder könne alles gut finden, was Sie machen: Haben die Rothenthurmer Gläubigen eine grosse Offenheit und Flexibilität bewiesen? Ja. Ich fand einen grossen Freiraum vor, konnte mit viel Freiheit wirken. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass man einfach so auf eine gute Resonanz stösst. Es waren ja auch nicht alle immer mit allem einverstanden, was ich gemacht habe. Aber wir waren doch in der Lage, kritische Punkte in einem konstruktiven Dialog zu besprechen. Sie haben damals über Ihr Programm gesagt, Sie wollten Christus den ersten Platz in der Pfarrei geben und die Eucharistie ins Zentrum stellen. Ist Ihnen das gelungen?

Ich glaube schon. Ich habe aber auch gelernt, dass Christus ins Zentrum stellen immer auch heisst, den Menschen ins Zentrum zu stellen. Denn die frohe Botschaft Jesu geht an die Menschen. Was mir wichtig war, dass alle Personen, die in der Pfarrei arbeiten, sich immer mehr als Jünger und Jüngerinnen Jesu verstehen. Sakristane, Sekretärin, Organisten, Katecheten, Pfarreiräte, Kirchenräte und Lektoren: Sie sind nicht Funktionäre oder Dienstleister der Kirche, sondern Gläubige, die aus einer Beziehung mit Christus ihre Arbeit machen. Welches Kirchenbild prägt Sie?

Ich wünsche mir, dass sich die Kirche nicht als Dienstleistungsbetrieb betrachtet, als ein Verein, als eine NGO. Gläubige sind keine Konsumenten, die Kirchensteuer bezahlen und dafür entsprechende Dienstleistungen in Anspruch nehmen (Taufe, Erstkommunion, Firmung, Beerdigung). Wir sind eine Familie. Die Zeit der Volkskirche wird vorbeigehen. Man kann diese Entwicklung bedauern, sie birgt aber auch Chancen: Diejenigen, die in der Kirche dabei sind, werden es vermehrt aus Überzeugung tun und nicht nur, weil es Brauch ist. Wir werden in der Kirche weniger werden als früher, dafür aber vielleicht mit mehr Leidenschaft. Welche Höhepunkte haben Sie in Rothenthurm erlebt? Seit vier Jahren führen wir Einkehrtage für das Pfarreipersonal durch, eine Art Exerzitien, die sehr stimmungsvoll über die Bühne gehen. Die Wallfahrten ins In- und Ausland (Rom, Padua, Turin, Fatima und Elsass) waren gleichsam Höhepunkte. Am 8. Mai brechen wir auf nach Freiburg, zur heiligen Marguerite Bays. Die Wiederentdeckung des heiligen Grabes auf dem Estrich und dessen Sanierung gehören ebenso zu den Highlights: Das aus dem Jahr 1688 stammende heilige Grab von Rothenthurm gehört zu den ältesten in ganz Europa. Sind Sie der Meinung, dass in Rothenthurm die Kirche im Dorf geblieben ist?

Ja, auch wenn Rothenthurm keine Oase ist und auch hier die gesellschaftlichen Veränderungen spürbar sind. Neuzuzüger pflegen nicht automatisch ein enges Verhältnis zur Pfarrei. Da braucht es etwas mehr Anstrengung, sie hereinzuholen, etwa, indem man zu den Leuten geht. Sicherlich geht der Säkularisierungsprozess in Rothenthurm langsamer über die Bühne als etwa in Städten und Agglomerationen. Es gibt doch immer noch viele Familien, in denen der christliche Glauben gelebt wird.

Pfarrhaus und Kirche werden durch die berüchtigte Hauptstrasse getrennt. Sind Sie immer gut über die Strasse gekommen?

Glücklicherweise sind in den letzten Jahren keine schweren Unfälle auf der Hauptstrasse passiert. Vielleicht hat das mit dem Bewusstsein zu tun, dass diese Strasse gefährlich ist: Dementsprechend passen auch die Kinder besser auf beim Überqueren der Strasse. Es gab einmal die Idee einer Unterführung der Strasse, die nicht nur für den Pfarrer hätte gebaut werden sollen (lacht). Aber diese Idee ist wieder verworfen worden. Ich bin weder für noch gegen den Umfahrungstunnel: Aus der Dorfpolitik halte ich mich raus. Ich finde überhaupt, dass sich die Kirche nur sehr beschränkt zu politischen Fragen äussern sollte. Sie sind in Rothenthurm ein beliebter und geschätzter Pfarrer. Ihr Weggang wird allgemein sehr bedauert. Was hat dagegen gesprochen, dass Sie in dieser Pfarrei geblieben wären? Wenn der Bischof meine Demission abgelehnt hätte, hätte ich dies als Zeichen gesehen und wäre geblieben. Wahrscheinlich auch, wenn es schwierig geworden wäre, einen neuen Pfarrer zu finden. Aber um geistig lebendig zu bleiben, tut der Umzug gut. Man kann mit der Zeit in einen Trott geraten. Man erledigt vieles mit mehr Routine, aber weniger Herzblut. Ich spüre, dass ich bequemer geworden bin.

Wie haben sich die Wirren rund um das Bistum Chur in Rothenthurm bemerkbar gemacht? Eigentlich kaum. Chur ist weit weg von Rothenthurm. Die Leute hierzulande haben sich wenig um die Querelen gekümmert. Rothenthurmer reagieren mit viel Nüchternheit und Gelassenheit auf Turbulenzen rund um das Bistum. Als damals Wolfgang Haas Bischof in Chur war, war Rothenthurm einer der wenigen Orte, wo der Bischof ungestört firmen konnte. Was machen Sie konkret in Ihrem Sabbatjahr?

Ich habe vor, auf dem Jakobsweg zu pilgern: Von Lourdes aus auf dem Camino del Norte, dem nordspanischen Küstenweg, nach Santiago de Compostela. Zudem möchte ich in einem Frauenkloster in der Slowakei Aushilfe machen und eine Zeit in einer Pfarrei in den USA verbringen, die sich in Baltimore befindet. Naturgemäss sind alle diese Pläne coronabedingt noch in der Schwebe. Viele Geistliche brennen aus in diesen Zeiten und flüchten dann in ein Sabbatjahr. Sind Sie selber jemals in die Nähe eines Burnouts geraten? Nein, zum Glück nicht, es geht mir gut. Ich fühle mich getragen durch Freundschaften mit Menschen und durch die Beziehung mit Gott. Manchmal resignieren heutzutage Geistliche, weil sie sich bemühen, die Volkskirche um jeden Preis zu erhalten oder wieder zu erreichen. Aber das funktioniert nicht. Die Gefahr ist auch, dass Priester auf Grund des Priestermangels immer mehr zu Funktionären werden: Sie haben Termine und Sitzungen und bleiben alleine zurück, weil sie kaum mehr Zeit für das Gebet oder die Erholung finden können.

In der Kirche herrscht in der Tat ein akuter Pfarrermangel. Wieso ist der Priesterberuf im 21. Jahrhundert ein dermassen schwieriger geworden? Um Junge für den Priesterberuf begeistern zu können, bräuchten diese ein positives Bild von der Kirche. Das gesellschaftliche Bild ist aber – durch Skandale in der Kirche, aber auch durch oft einseitige Berichterstattung in den Medien – ein vorwiegend negatives. Unter diesen Umständen bräuchte es fast schon Märtyrerblut, um sich für diesen Beruf entscheiden zu können. Die Kirche hat auch ihren Teil dazu beigetragen, einen nicht unbedingt gerade attraktiven Arbeitgeber abzugeben: Sie hat sich vielfach auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Die Kirche ist teilweise angepasst, satt und bequem geworden, statt den Menschen wirklich Christus und seine Botschaft zu verkünden.

Auf welchem Weg ist die katholische Kirche unterwegs? Wie gesagt werden sich die volkskirchlichen Strukturen in der Zukunft vermehrt auflösen. Die Kirche darf aber deswegen nicht zu einer Gemeinschaft von Auserwählten werden. Sie muss einladend und offen bleiben für alle Menschen. Früher wurde der Glaube selbstverständlich von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das ist heute nicht mehr der Fall. Deshalb werden die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kirche vermehrt wieder missionarisch sein und die Menschen im Glauben ansprechen müssen. Für viele Christen ist heute der Glaube ein Mosaiksteinchen unter vielen, die ihr Lebensbild prägen. Man ist gleichsam nebenbei auch noch Christ. Bei Muslimen zum Beispiel ist das meist anders: Muslim zu sein ist seine Identität. Wir müssen verstehen, dass die Kraft unseres Glaubens darin besteht, dass er vielmehr die einzelnen Mosaiksteinchen des Lebens beseelt und durchströmt und so unser Leben zu einem gelungenen Gesamtkunstwerk macht. Ihr Namensvetter, der Priester Erich Camenzind, hatte viele Kinder. Haben Sie am Zölibat gezweifelt? Ich hatte in meiner Jugendzeit auch Beziehungen. Aber ich empfand sie mit der Zeit als anstrengend. Vielleicht weil ich selber bisweilen anstrengend bin. Auf jeden Fall kann ich eigentlich gut allein sein. Ich leide nicht an der Sehnsucht nach einer Beziehung und einer Familie. Der Zölibat gibt dem Priester eine grosse Freiheit. Diese Freiheit birgt natürlich auch Gefahren, ich weiss darum. Wenn es einem nicht gelingt, die Freiheit fruchtbar zu nutzen für die Beziehung zu Gott und den Menschen, kann man leicht auch auf Abwege kommen. Man wird zum genügsamen Single, zum Sonderling oder Egoisten.

Können Sie sich eine Kirche vorstellen, in der die Priester eine Beziehung eingehen dürfen? Vorstellen kann man sich vieles. Es gibt ja bereits verheiratete Priester. Die Apostel waren auch verheiratet, haben dann aber ihre Familien verlassen, um Christus nachzufolgen. Ich glaube, dass viele Spannungen entstehen, wenn man Seelsorger und Ehemann sein will. Eine Partnerin und eine Familie verdienen die ganze Aufmerksamkeit. Die Scheidungsrate ist bei Seelsorgern relativ hoch. Vielleicht weil es in solchen Beziehungen zu hohe Erwartungen gibt. Niemand will sich einen Seelsorger vorstellen, der mit Bier und Chips vor dem Fernseher hängt und die alten Socken liegen lässt (lacht). Corona hat im letzten Jahr naturgemäss auch das Pfarreileben in Rothenthurm geprägt. Wie gehen die Gesellschaft, die Christen aus dieser Krise hervor? Die Corona-Pandemie wäre eine Chance gewesen sowohl für die Kirche wie für die Gesellschaft für eine Einkehr und Umkehr. Diese Chance wurde verpasst. Ich befürchte, dass wir kaum verändert aus dieser Zeit hervorgehen werden. Aber das Ganze geht ja noch weiter. Die Chance lebt noch. Ist das Virus womöglich eine der sieben Plagen der Endzeit? Leben wir in apokalyptischen Zeiten? In der Bibel wurden Krisenzeiten vom Volk immer als Anruf zur Umkehr verstanden. Das scheint heute nicht mehr notwendig. Wir kriegen das alles selber in Griff. Gott braucht es dabei nicht. Danach machen wir weiter wie bisher. Vielleicht leben wir in apokalyptischen Zeiten. Aber darüber nachgrübeln will ich nicht. Was würde es nützen zu wissen, dass morgen das Ende kommt, wenn ich heute sterbe? Umkehr ist immer aktuell.

«Die Kirche hat sich auf ihren Lorbeeren ausgeruht, ist angepasst, satt und bequem geworden.» «Ich kann gut allein sein und leide nicht an der Sehnsucht nach einer Beziehung und einer Familie.» «Niemand will sich einen Seelsorger vorstellen, der mit Bier und Chips vor dem TV hängt.» «Was würde es nützen zu wissen, dass morgen das Ende kommt, wenn ich heute sterbe?»

Zeit des Abschiednehmens vor dem Pfarrhaus in Rothenthurm: Pfarrer Erich Camenzind nimmt seinen Hut und zieht in die Welt hinaus.

Foto: Magnus Leibundgut

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