«M52 verhält sich sehr unauffällig»
Christina Steiner über den Einsiedler Wolf – und über die Bedeutung von Wölfen ganz allgemein
Jüngst ist ein Wolf im Zürcher Oberland gesichtet worden – in der Nähe von Hinwil. Auch in der Region Einsiedeln werden immer wieder Spuren eines Wolfs entdeckt. Was macht dieses Tier? Christina Steiner, Präsidentin Verein CH-Wolf, die in Einsiedeln lebt, gibt Auskunft im Interview.
WOLFGANG HOLZ
Frau Steiner, man hat schon länger nichts mehr vom Einsiedler Wolf gehört. Gibt es den überhaupt noch? Was ist das genau für ein Tier? Der männliche Wolf mit dem Namen M52 wurde erstmals im November 2015 in der Region Einsiedeln nachgewiesen. Seither lebt er sehr unauffällig im Gebiet Einsiedeln, Egg, Sattelegg, Ybrig. M52 kam 2014 im bündnerischen Calanda-Rudel zur Welt und wanderte mit 1½ Jahren vom Rudel ab und fand in der Region Einsiedeln sein neues Revier. Warum wandern Jungtiere ab?
Jungtiere wandern in der Regel mit 10–22 Monaten vom elterlichen Rudel ab, um sich einen Partner zu suchen und in einem neuen geeigneten Revier eine eigene Familie zu gründen. M52 hat leider noch keine Partnerin gefunden. M52 wurde im Sommer 2018 letztmals bei Einsiedeln genetisch nachgewiesen. Die Wildhut macht jedoch mittels Fotofallen immer wieder Foto- und Filmnachweise des Wolfes. Ich gehe davon aus, dass M52 noch in der Region unterwegs ist. Wölfe haben immer so spezielle Bezeichnungen, die sich wie Chiffren von Agenten im Auftrag der englischen Majestät lesen. Was bedeuten diese eigentlich?
Der Buchstabe M steht für «male» – männlich – und der Buchstabe F für «female» – weiblich. 1995 wurde der erste männliche Wolf in der Schweiz genetisch nachgewiesen. Dieser erhielt den Namen M1. Der nächste männliche Wolf hiess M2, und so weiter. Der 1. weibliche Wolf wurde 2002 in der Schweiz nachgewiesen. Diese Wölfin erhielt den Namen F1. M52 ist also der 52. männliche Wolf, der in der Schweiz genetisch nachgewiesen wurde. Wie viele Wölfe leben eigentlich derzeit in der Schweiz? In der Schweiz leben zurzeit neun bestätigte reproduzierende Wolfsfamilien. Dazu kommen das Calanda- und das Morobbia-Rudel, welche 2018 letztmals Welpen aufgezogen haben und deren Weiterentwicklung offen ist. Zusammen mit den diversen Einzelwölfen sind dies geschätzt zwischen 100 und 120 Wölfe. Sechs Rudel leben allein im Kanton Graubünden, eines lebt im Glarnerland, eines im Tessin, eines im Wallis und eines im waadtländischen Jura. Im Unterwallis wird ein weiteres Rudel vermutet. 6 verschiedene Wölfe wurden 2020 im Gebiet des Val d’Entremont nachgewiesen. Bestätigt ist das Rudel jedoch noch nicht. Wovon ernährt sich der Einsiedler Wolf – es gibt ja immer wieder das Problem, dass Wölfe Nutztiere reissen? M52 ernährt sich vor allem von Reh- und Rotwild. Dann kommen sicher auch noch diverse kleinere Tiere wie Hasen, Marder, Mäuse, et cetera dazu, und im Herbst kann er sich auch mal von reifen Früchten wie Äpfeln oder auch Beeren ernähren. M52 verhält sich sehr unauffällig. Er hat bisher noch keine Schäden an Nutztieren angerichtet. Wenn es Schäden in der Region Einsiedeln gab, konnte immer ein anderer Wolf dafür verantwortlich gemacht werden. 2014 hat der Wolf M45 in Euthal Schafe gerissen und 2017 war es M79, der in Einsiedeln Schaden verursachte. In beiden Fällen waren die Tiere ungenügend geschützt. Beide Wölfe waren auf der Durchwanderung. Können Sie verstehen, dass Bauern Angst um ihre Nutztiere haben? Wie können Bauern ihre Tiere wirksam vor Wölfen schützen? Ja natürlich kann ich das verstehen. Es ist auch kein schöner Anblick, wenn ein Schaf von einem Wolf gerissen wird. Nutztiere können jedoch mit geeigneten Herdenschutzmassnahmen geschützt werden. Diese sind zwar aufwendig und kosten, wenn sie richtig umgesetzt werden, zeigen sie aber grosse Wirkung.
Wie geht das?
Welche Schutzmassnahmen geeignet sind, muss immer vor Ort angeschaut werden. Dies kommt auf die Anzahl Tiere, die Lage des Hofes oder Alpbetriebes, das Gelände, die Wolfspräsenz et cetera an. Auf dem Heimbetrieb sind dies vor allem gut aufgestellte Elektrozäune. Wichtig ist, dass diese einen guten Bodenabschluss haben und auf der gesamten Zaunlänge genügend Strom führen. Der wirksamste Schutz der Herde auf den Alpen ist die ständige Behirtung, der Einsatz von Herdenschutzhunden und Nachtpferch. Herdenschutzmassnahmen werden zwar von Bund und Kantonen unterstützt, unserer Meinung nach jedoch noch viel zu wenig. Auch vonseiten des Tourismus fehlt es oft an der Akzeptanz gegenüber den Herdenschutzhunden. Hier braucht es noch viel Aufklärungsarbeit und Toleranz aller.
Wie viele Wölfe werden pro Jahr abgeschossen?
Das ist jedes Jahr verschieden. 2021 wurde vom Kanton Bern bereits eine Abschussbewilligung für die Wölfin F78 erteilt. Diese wurde Ende Februar erlegt. Letztes Jahr wurde kein Wolf legal geschossen und 2019 wurden drei Jungtiere des Beverin-Rudels (GR) legal abgeschossen. Immer wieder werden auch einzelne Wölfe vor allem im Wallis und Graubünden gewildert. Die meisten Wölfe kommen jedoch im Strassen- und Schienenverkehr ums
Leben.
Was fasziniert Sie persönlich so an Wölfen?
Die ganze Familienstruktur und die sehr ausgeprägte Körpersprache und Mimik der Wölfe. Wölfe sind sehr soziale Tiere und leben in einem Familienverband, der ähnlich aufgebaut ist wie eine menschliche Familie. Die Elterntiere bleiben ein Leben lang zusammen und ziehen, wenn es gut läuft, jährlich Welpen auf. Die älteren Geschwister, welche noch nicht abgewandert sind, helfen bei der Welpenaufzucht mit. Sie kümmern sich auch um kranke und verletzte Familienmitglieder und bringen ihnen Futter. Die Wölfe leben stationär in einem Revier, welches zirka 200–300 Quadratkilometer gross ist. Dieses Gebiet wird gegen fremde Wölfe verteidigt. Das hört sich sehr spannend an. Sind Sie persönlich denn schon einmal einem Wolf begegnet?
In der Schweiz bin ich leider noch keinem freilebenden Wolf begegnet. Das Calanda-Rudel habe ich aber schon heulen hören. In den USA hatte ich schon mehrmals das Glück, freilebende Wölfe aus relativ naher Distanz zu beobachten, und letztes Jahr konnte ich in Deutschland in der Lausitz einen Wolf aus weiter Distanz beobachten. Ich hatte jedoch schon viele persönliche Begegnungen mit Wölfen in Gefangenschaft. 2009 habe ich im Wildpark Schorfheide in Deutschland vier Wolfswelpen von Hand aufgezogen und sozialisiert. Diese leben seit Sommer 2009 im Tierpark Goldau.
Wie wichtig sind Wölfe für unsere Umwelt?
Der Wolf ist ein wichtiger Bestandteil der Biodiversität. Er trägt aktiv dazu bei, dass Ökosysteme natürlich im Gleichgewicht gehalten werden. Er hilft auf natürliche Weise, den Beutetierbestand zu regulieren. Durch die Rückkehr des Wolfes verändert sich auch das Verhalten der Hirsche und Rehe.
Inwiefern?
Sie werden vitaler, wandern mehr umher und nutzen nicht immer dieselben Orte, was die Wildschäden an Wald und Vegetation verringert. Dies wirkt sich vor allem in den Berggebieten sehr positiv für die Schutzwälder aus. Dank dem Wolf wird auch das Wild gesünder und kräftiger. Wölfe haben vor allem bei jungen unerfahrenen, kranken und alten schwachen Tieren Jagderfolg. Die gesunden und kräftigen Tiere erwischen sie kaum. Dank der Selektion kranker Beutetiere können sich auch ansteckende Infektionskrankheiten weniger schnell ausbreiten. Da sich vor allem die gesunden und starken Tiere reproduzieren, verbessert dies die Kondition der Beutetierpopulation, was wiederum zu einer erhöhten Anzahl an Nachwuchs und zu kräftigerem Nachwuchs führt.
Wie erklären Sie sich den öffentlichen Hype um die Wölfe?
Überall, wo der Wolf neu auftaucht, löst er Angst und Unbehagen bei der Bevölkerung aus. Diese Ängste stammen vor allem aus der falschen Darstellung des Wolfes in den Märchen, der Unwissenheit und den Negativschlagzeilen in den Medien. Jedes Kind lernt, dass der Wolf böse ist und Menschen frisst. Auch in den Medien wird er meist als blutrünstige Bestie dargestellt. Wir haben auch verlernt, mit dem Wolf zu leben. Er war über 100 Jahre nicht mehr da und plötzlich steht er quasi «vor der eigenen Haustür». Was man nicht, oder nur von der negativen Seite her kennt, macht Angst. Enorm wichtig ist deshalb Aufklärungsarbeit. Je mehr man über den Wolf, über sein Verhalten und auch seinen Einfluss auf das ganze Ökosystem weiss, desto eher wird man ihn akzeptieren und wieder lernen, mit ihm zu leben.
Die Einsiedlerin Christina Steiner, Präsidentin Verein CHWolf, ist fasziniert von Wölfen. Foto: zvg
M52 auf Tour: Der Einsiedler Wolf wurde Ende November 2018 zuerst in Willerzell, dann im Hoch-Ybrig gesichtet.
Archiv-Foto: Facebook Brunni News
«Ich habe in einem deutschen Wildpark vier Wolfswelpen von Hand aufgezogen und sozialisiert. Diese leben seit Sommer 2009 im Tierpark Goldau.»
Christina Steiner, Präsidentin Verein CHWolf, Einsiedeln
«Jedes Kind lernt, dass der Wolf böse ist und Menschen frisst. Auch in den Medien wird er meist als blutrünstige Bestie dargestellt. »