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«Wir haben immer mehr psychisch hochanfällige Insassen»

«Wir haben immer mehr psychisch hochanfällige Insassen» «Wir haben immer mehr psychisch hochanfällige Insassen»

Seit vergangenem Mai ist die Siebnerin Liliane Kistler Fegert Vorsteherin des Amts für Justizvollzug im Kanton Schwyz. Quarantäne und ein Gefängnisaufenthalt seien schon zwei verschiedene Paar Schuhe, sagt die Juristin.

ANDREAS SEEHOLZER

Seit gut neun Monaten stehen Sie dem Amt für Justizvollzug vor. Wie haben Sie sich eingelebt?

Für mich ist es mein Traumjob, bei dem ich meine Fähigkeiten und langjährige Berufserfahrung voll einbringen kann. Die Stelle ist vielfältig, gefällt mir sehr, und zudem kann ich in meinem Heimatkanton arbeiten. Den direkten Kontakt zu meinem Vorgesetzten und den anderen Amtsleitungen schätze ich sehr. Die Zusammenarbeit mit der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten ist unkompliziert und angenehm. Vor allem macht die Arbeit mit meinem mich tatkräftig unterstützenden und engagierten Team viel Spass. Sie hatten an Hochschulen im In- und Ausland verschiedene Lehraufträge. Worum ging es? Es ging immer um den Strafund Massnahmenvollzug, um Prognostik und Verwaltungsrecht.

Die Resozialisierung von Delinquenten ist teuer. Stimmt der Ansatz? Sicherheit im Strafvollzug kostet sehr viel. Wie viel Geld dafür ausgegeben werden soll, ist eine Frage der Anschauung, wie wir uns als Gesellschaft geben wollen. Meines Wissens gibt es einen Fall «Carlos» mit entsprechend kostenaufwendigem Setting zum Beispiel in Italien oder Frankreich nicht. Ich möchte aber auch keine Zustände, wie es in den Institutionen im Ausland teilweise üblich ist. Eine Gesellschaft misst sich auch daran, wie sie mit allen Bürgern umgeht.

Ihr Mann, Jörg Michael Fegert, ist Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut, ein bekannter Kinderschützer und Traumaforscher. Sie arbeiten mit den Tätern. Sind Sie interessiert an deren Psychologie? Die interessiert mich sehr: Ich habe in einem dreijährigen Nachdiplomstudiengang an der Universität Zürich die Forensische Fachqualifikation «Prognostik» als eine der ersten Absolventinnen erlangt. Dabei geht es um den rechtlichen Umgang mit Personen mit psychiatrischem Störungsbild, die Einschätzung der Gefährlichkeit von Straftätern, aber auch darum, Gutachten zu schreiben und Therapien im Strafvollzug zu beurteilen. Das kommt Ihnen bei Ihrer aktuellen Tätigkeit zugute … Dieses Wissen nützt mir, zumal ich ja die heikleren Fälle zusammen mit meiner Strafvollzugsleiterin auch selber betreue.

Können Sie das ausführen?

Im Gefängnis haben wir zunehmend psychisch hochauffällige Insassen, zum Beispiel Personen mit Suchtproblematik oder Schizophrenie. Es ist eine Gratwanderung, wie der Gefängnisleiter mit seiner langjährigen Erfahrung die daraus im Gefängnisbetrieb resultierenden Probleme schildert. Dann geht es darum, einzuschätzen, wie mit solchen Personen in kritischen gesundheitlichen Zuständen umgegangen werden muss oder ob sie wegen Selbst- oder Fremdgefährdung in eine psychiatrische Klinik verlegt werden müssen. Sie sagen, es gebe mehr psychisch hochauffällige Insassen … Die Zahl hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Dies führt dazu, dass das Betreuungspersonal immer mehr gefordert wird und sehr gut geschult sein muss. Wir haben Insassen mit selbstverletzendem Verhalten, die mit dem Kopf gegen die Zellenwand rennen, sodass die Wand rot vor Blut ist. Welche Schutzmassnahmen ergreift man da, ohne gleichzeitig solches Fehlverhalten zu belohnen, das sind schwierige Entscheidungen.

Warum gibt es mehr psychische Störungen? Vor allem bei jungen Menschen ist der Cannabiskonsum sicher schädlich und kann Psychosen auslösen. Wir sehen das häufig bei Jugendlichen mit schweren Drogen- oder Medikamentenabhängigkeiten. Bei manchen Personen mit Persönlichkeitsstörungen tritt fortschreitend eine Verwahrlosung und Randständigkeit ein, wodurch die psychische Gesundheit leidet.

Diese Probleme aus der Gesellschaft bringen die Häftlinge in den Strafvollzug mit? Ja. Wir haben darum im Gefängnis nur sehr gut ausgebildetes Betreuungspersonal, welches berufsbegleitend am Kompetenzzentrum für Justizvollzug in Fribourg die Ausbildung als Fachfrau oder Fachmann Justizvollzug absolviert. Es ist der Verdienst meines Gefängnisleiters, dass wir für den 24-Stunden- Schichtbetrieb ein gut funktionierendes Team mit erfahrenen Fachpersonen haben. Es braucht viel Fingerspitzengefühl, wenn man in heiklen Situationen rechtzeitig konsequent intervenieren muss und dabei niemanden berühren darf. Gewalt hat bei uns überhaupt keinen Platz. Entscheide zu treffen, wie gross eine Rückfallgefahr ist, ist eine grosse Verantwortung. Kann man sie mit gutem Gewissen treffen?

Ja, allerdings mehr als ein gutes Gewissen hilft dabei das nötige Fachwissen. Dazu gibt es in den Akten Führungsberichte, Therapieberichte und Gutachten, die beurteilt werden müssen. Mein Auftrag als Juristin ist es, bei der Gewährung von Vollzugslockerungen aufgrund der Aktenlage und mit persönlichen Gesprächen das Rückfallrisiko und die Absprachefähigkeit des Insassen abzuschätzen und notwendige Auflagen für Vollzugslockerungen zu definieren. Da hilft Ihnen die Ausbildung in gerichtspsychologischen Fragen …

… und die langjährige Erfahrung im Umgang mit Straftätern.

Haben Sie schon einmal einen falschen Entscheid getroffen?

Eigentlich nein. Aber was heisst falsch? Wir haben zum Beispiel einer verwahrten Person in Zürich in kleinen Schritten mehr Freiheiten gewährt. Nach drei Jahren begann sie sich im Urlaub anstatt mit Familienmitgliedern mit Prostituierten zu treffen. Es kam zu einer Auseinandersetzung mit Tätlichkeiten, und dies führte zu seiner sofortigen Rückversetzung in den geschlossenen Vollzug. Eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, aber es geht um eine möglichst sorgfältige Einschätzung des Einzelfalls. Daskann auch dazu führen, dass sich keine Vollzugslockerungen und keine bedingte Entlassung gewähren kann, obwohl das Gesetz die bedingte Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe als Regel vorsieht.

Schlafen Sie gut?

Ja, all meine Schäfchen sind gut versorgt.

Durch die Covid-19-Pandemie fühlen wir uns eingesperrt. Wo liegen die Unterschiede zu einem wirklich im Gefängnis Inhaftierten?

Wer aktuell ins Gefängnis kommt, muss für sieben Tage in Quarantäne, also in Einzelhaft und ist damit doppelt eingesperrt. Die Insassen bekommen die Pandemie auch zu spüren, indem die Urlaubs- und Besuchsmöglichkeiten eingeschränkt werden müssen. Zudem haben wir aufgrund des Lockdowns weniger Arbeit für die Insassen. Sie sitzen nun in der Zeit, in der sie sonst gearbeitet haben, vermehrt in der Zelle. Gibt es Netflix in der Zelle?

Nein, Netflix sicher nicht. Die Gefangenen haben Fernsehen mit ausgewählten Programmen, aber kein Internet und kein Mobilfunktelefon. Die Handys werden ihnen beim Eintritt abgenommen, und die Insassen müssen kontrolliert das konventionelle Telefon benutzen.

Eine Quarantäne im Zivilleben ist also nicht vergleichbar mit einer Inhaftierung? Wenn man sich strikte an die Quarantäneregeln hält, kann man vielleicht nachfühlen, wie es Gefangenen geht. Aber wie vorhin gesagt, sind die Möglichkeiten der Unterhaltung im Gefängnis sehr eingeschränkt, und die Perspektive ist eine andere. Die psychische Belastung ist im Gefängnis höher, da von aussen abgeschlossen wird und in Einzelfällen für sehr lange Zeit. Die längste Strafe, die ein Verurteilter des Kantons Schwyz aktuell in einer grösseren Anstalt absitzen muss, beträgt 9,5 Jahre. Ist man im Gefängnis besser vor Covid-19 geschützt? Ich denke schon, die Kontakte sind ja sehr reduziert. Dies auch, weil wir wegen der Pandemie nur in dringenden Fällen Urlaub gewähren, die Besucherzahl beschränken müssen und die erlaubten Besuche nur hinter Trennscheiben erfolgen. Die einzige Möglichkeit einer Ansteckung besteht durch das Betreuungspersonal, da dieses ja jeden Abend nach Hause geht.

Was passiert bei einem Covid-Fall? Solange der Insasse vom Gefängnisarzt betreut werden kann, bleibt er hier. Wenn nicht, dann müsste er bewacht in ein Spital oder bei Gefahr für Drittpersonen in die Sicherheitsabteilung des Insel-Spitals in Bern verlegt werden. Wie viele Personen sitzen zurzeit ein?

Wir haben 38 Plätze. Schon bei der ersten Welle mussten wir die Belegung herunterfahren, denn wir müssen genügend Zellen freihalten, um die Neueintritte vom Gruppenvollzug zu trennen. Aktuell sind durchschnittlich 20 Plätze besetzt. Welche Vorkehrungen trafen Sie bezüglich Covid-19? Im ersten Lockdown haben wir die Betreibungen für Bussen gestoppt und Strafantrittsbefehle bei Kurzstrafen temporär ausgesetzt. Die Polizei hat nur die allernötigsten Verhaftungen vorgenommen, und die Staatsanwaltschaften haben nur die dringendsten Fälle in Untersuchungshaft genommen. In der aktuellen Situation mussten wir noch nicht zu solchen drastischen Massnahmen greifen.

«Eine Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit allen Bürgern umgeht.» «Welche Schutzmassnahmen ergreift man, ohne Fehlverhalten zu belohnen?» «Im Gefängnis gibt es kein Netflix, kein Internet und kein Mobilfunktelefon.» «Wenn man sich strikte an die Quarantäneregeln hält, kann man nachvollziehen, wie es Gefangenen geht.» Zur Person

Liliane Kistler Fegert ist am 25. Juni 1968 geboren und lebt in Siebnen. Sie ist verheiratet. Liliane Kistler Fegert ist Juristin und Vorsteherin des Amts für Justizvollzug des Kantons Schwyz. Zu ihren Hobbys gehören Sport, Kultur, Kunst und Fahrradausflüge mit ihrem Mann.

Liliane Kistler Fegert, Vorsteherin des Amts für Justizvollzug, zum Thema Rückfallgefahr: «Eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, aber es geht um eine möglichst sorgfältige Einschätzung des Einzelfalls.» Foto: Andreas Seeholzer

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