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Wo das Klosterdorf zur Stadt wird

Wo das Klosterdorf zur Stadt wird Wo das Klosterdorf zur Stadt wird

Die Einsiedlerstrasse in Horgen ist kilometerlang und sehr facettenreich

Einsiedeln strahlt wegen des Klosters in die Region aus. Das kann man auch daran ablesen, dass es in der ursprünglich reformierten Gemeinde am Zürichsee, die 25 Kilometer vom Klosterdorf entfernt liegt, eine Einsiedlerstrasse gibt. Die ist sehr speziell. Ein Augenschein vor Ort.

WOLFGANG HOLZ

Das gibt’s doch nicht! Man starrt bei der Fahrt im Auto fast ungläubig aufs Navi – weil die Einsiedlerstrasse in Horgen einfach nicht aufhören will. Die weitgehend gerade, mal breitere, mal schmale Strasse, die sich in Halbhöhenlage parallel zum Ufer des Zürichsees durch die Gemeinde Horgen auf einer Länge von 5,8 Kilometern erstreckt, wirkt lang. Endlos lang. Ein Monstrum, quasi. Sage und schreibe 535 Hausnummern haben hier eine Adresse.

Die längste

Wobei diese Hauptverkehrsachse mit dem Namen des Klosterdorfs in ihrem Verlauf von Nordwesten nach Südosten einmal kurz von der Zugerstrasse unterbrochen wird, die auf den Hirzel führt. Klar, auch in Wädenswil und in Schindellegi, die viel näher beim Klosterdorf liegen, gibt es Einsiedlerstrassen. Doch diese sind deutlich kürzer. Und im Fall von Schindellegi verkörpert die Einsiedlerstrasse zum einen nur noch eine reine, doppelspurige Autostrasse bis Biberbrugg, zum anderen einen Strassenstummel ins Industriegebiet.

Warum gibt es also gerade in der 24’000-Einwohnergemeinde Horgen so eine ellenlange Einsiedlerstrasse, die sich wie ein Gemischtwarenladen aus Häuserschluchten, Wohnsiedlungen, Gewerbegebieten, Baustellen, Feldern und Wiesen präsentiert?

Eben Richtung Einsiedeln

Für den Verkehrshistoriker Hans-Ulrich Schiedt ist die Sache absolut logisch. «Die Einsiedlerstrasse heisst eben Einsiedlerstrasse, weil sie schon immer die langsam ansteigende Landstrasse Richtung Einsiedeln gewesen ist», sagt der Horgner und schmunzelt.

Der Begriff Landstrasse bedeute dabei historisch gesehen nicht den Gegensatz zur Stadt, sondern verstehe Land als räumlich-herrschaftlichen Zusammenhang der im Spätmittelalter aufkommenden Territorialherrschaften. «Im Spätmittelalter kam es zu einem Bevölkerungswachstum und damit zu einer Ausdehnung und intensiveren Nutzung des Kulturraums sowie zu einer Verdichtung der Verkehrsnetze», erklärt Schiedt. Dieses Phänomen treffe auch auf Horgen zu.

Die Landstrassen waren quasi das moderne, das breitere und mit Fuhrwerken befahrbare «Upgrade» der traditionellen Säumerwege. Wobei sich von Horgen aus, wo es ab dem 16. Jahrhundert eine Sust gab, einen regionalen Warenumschlagplatz inklusive Zollamt, der Handel besonders rege entwickelte. Nicht zu vergessen, dass in Richtung Einsiedeln eben die Pilger auf der Landstrasse durch Horgen und danach über den Etzel strömten. Ob sie am Ende alle froh waren, Horgen hinter sich lassen zu können, ist nicht überliefert. Der Name Horgen leitet sich ja vom mittelhochdeutschen «hor» ab – was so viel wie Sumpfboden und Kot bedeutet. Immerhin sind aktuell 15 Kälins im Telefonbuch als Horgner registriert.

Mietskasernen und Villas Doch zurück zur nicht unbedingt schönen, aber sehr facettenreichen Einsiedlerstrasse in Horgen. Das Klosterdorf wird hier zur Stadt – auch wenn es offen gestanden nicht viele Ähnlichkeiten gibt. Neben dem typischen Häuserbrei aus teils schmucken Einfamilien-Reihenhäusern, Wohnblocks und Gewerbegebäuden stechen zahlreiche interessante Bauten heraus.

Zum Beispiel die gigantischen, grossstadtgrossen Mietskasernen aus der Nachkriegszeit. Zum Beispiel eine grossbürgerliche Villa im italienischen Stil. Zum Beispiel der Bauhaus-Bau mit der quadratischen Klinkerfassade – in grellem Rosa. Oder der futuristische Verkehrskreisel – in dessen Mitte tatsächlich ein überdimensionierter Kinder-Kreisel kreist.

Statt eines Klosters ist eine neuapostolische Betonkirche am Strassenrand zu erkennen. Dort, wo sich die Einsiedlerstrasse ländlicher gibt, strahlen Fachwerkhäuser in der Sonne. Wahrlich ein architektonischer Mikrokosmos. Nicht zu vergessen: Der erhöhte Blick auf den Zürichsee, der von der Strasse aus zwischen den Häusern immer wieder zu erhaschen ist.

Die Grosi und ihre Enkelin

«Eigentlich ist es hier ganz schön an der Einsiedlerstrasse – wenn da nicht der viele Verkehr wäre, der sich hier sofort durchwälzt, sobald es auf der Autobahn oder auf der Seestrasse staut», sagt Mary Ruge.

Die rüstige Rentnerin wohnt schon seit 42 Jahren hier und wartet gerade mit ihrer Enkelin Olivia an der Bushaltestelle. Sie unterhält noch verwandtschaftliche Beziehungen nach Unteriberg. Ins richtige Einsiedeln fährt sie öfters mal, um eine Messe im Kloster zu besuchen. «Ich gehe im Klosterdorf auch gerne in den ‹Bären› oder in den Goldapfel», erzählt sie. Dann kommt der Bus.

«Im Spätmittelalter kam es zu einem Bevölkerungswachstum und damit auch zu einer Verdichtung der Verkehrsnetze.»

Hans-Ulrich Schiedt Verkehrshistoriker

Fast schon grossstädtische Dimensionen hat die Einsiedlerstrasse in Horgen auf diesem Abschnitt: Links riesige Mietskasernen und die Einsiedlerstrasse in der Grösse eines Boulevards. Fotos: Wolfgang Holz

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