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Das Monatsgespräch im Februar

Das Monatsgespräch im Februar Das Monatsgespräch im Februar

Franziska Keller trifft Irina Bilyavska Camenzind, Sprachlehrerin mit ukrainischen Wurzeln

Jahrgang: 1970 Bürgerort: Gersau SZ Geburtsort: Mykolajiv, Ukraine Wohnort: Einsiedeln Ich treffe meine Gesprächspartnerin Irina Bilyavska an einem Montagmorgen in ihrem neuen, hell eingerichteten «Gönn dir»Raum im Haus Waldstatt. Irina kenne ich schon lange. Sie ist eine herzensliebe Person, lacht gerne, geht offen auf die Menschen zu, erzählt leidenschaftlich von ihren Ideen und aus ihrer ukrainischen Heimat, wie sie sich hier eingelebt hat, über Familienzusammenhalt, Frauenrechte, wie es ist, in einem Männerhaushalt zu leben und warum sie den «Gönn dir»-Raum ausgerechnet während dieser unsicheren Corona-Zeit eröffnet hat. Ich erinnere mich an den Eurovision Song Contest, an welchem 2016 die ukrainische Sängerin Jamala siegte. Es war an Pfingsten und du hast gejubelt und getanzt, weil deine Heimat gesiegt hat.

Medien berichten meist Negatives und ich freue mich immer über positive News. Vor allem, wenn es um meine Heimat geht, wo es so viel Schönes zu erzählen gibt. Mit dem Leidenslied «1944» über die Vertreibung einer Minderheit, die Krimtataren, unter Sowjetdiktator Josef Stalin, hat die Krimtatarin Jamala damals den Sieg ersungen. Es geht darin um das Schicksal verschiedener Familien und Jamalas eigene Urgrosseltern, die alle ihre Heimat verloren haben. Das war eine Botschaft an die Welt, die viele Menschen berührte. Wann warst du das letzte Mal daheim? Normalerweise reisen wir jedes Jahr im Sommer für drei Wochen zu meiner Familie und zu unseren Freunden. Das war 2020 leider nicht möglich, was bedeutet, dass ich meine Eltern schon bald zwei Jahre nicht mehr gesehen habe. Das ist sehr traurig und ich hoffe und bete, dass sie nicht krank werden oder sterben.

Seit wann lebst du in der Schweiz?

Seit 15 Jahren leben wir in Einsiedeln. Ich bin wegen Franz,meinem Mann, hierhergekommen. Kennengelernt haben wir uns 1999 in der Ukraine, als wir noch jung waren und Franz für einen Sprachaufenthalt zu uns kam. Bist du in Einsiedeln daheim?

Einsiedeln ist meine zweite Heimat geworden, denn wo ich die Liebe spüre, fühle ich mich wohl. Ich fühle mich sehr verbunden zu diesem Ort, weil ich Leute kenne, die mein Leben bereichern und weil meine Kinder hier aufgewachsen sind. Es gibt hier viele besondere Orte: wo meine Kinder Skifahren lernten, wo wir jungverheiratet picknickten et cetera … es ist ein Teppich der Erinnerungen. Ich schätze die Natur, die so viel bietet und es ist auch ein sehr spiritueller Ort.

Wenn man die eigene Heimat verlässt, verabschiedet man sich auch ein Stück weit von der eigenen Identität, man muss sich neu finden, ein neues Netzwerk und Freundschaften aufbauen.

Spontanbesuche bei Familie und Freunden in der Ukraine fehlen mir schon. Auch trotz der Kommunikation über moderne Möglichkeiten wie Skype, Viber, WhatsApp und so weiter vermisse ich die wirklich menschlichen Begegnungen. Ich nehme dich als sehr herzliche Person wahr. Wie erlebst du die Menschen hier? Ich denke, es gibt überall offenere und verschlossenere Menschen. In der Ukraine ist vielleicht der Familienzusammenhalt grösser und man lebt zusammen wie in einem «grossen Dorf».

Wenn du als Person mit Migrationshintergrund hierher kommst, fehlen dir die ehemaligen Klassenkameraden, die Kameraden der Uni – du hast also keine früheren Schulfreunde und kommst in eine Gesellschaft, in der bestimmte Beziehungen bestehen. Und da musst du deinen Weg suchen, was schon seine Zeit braucht. Aber grundsätzlich beschäftigen sich die Leute doch überall mit denselben Themen: Beziehung, Liebe, glücklich sein, Arbeit, Geld – wie geht man mit der schnelllebigen Zeit um. Fühlst du dich hier integriert?

Mein Mann und seine Familie haben mir sehr geholfen, hier anzukommen. Sie haben mich und meinen Sohn aus erster Ehe herzlich aufgenommen, so dass ich auch hier Familie spüren durfte. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Den Prozess der Integration muss man dann aber selbst gehen. Was hat dir bei der Integration weitergeholfen? Mir scheint das berufliche Tätigkeitsfeld dabei sehr wichtig. Für mich waren das: BZZ Horgen, Fortbildungsverein Einsiedeln und Komin, das Kompetenzzentrum für Integration Kanton SZ. Vor fünf Jahren gründeten wir in Einsiedeln den Kulturverein Dialog und ich schätze sehr, was daraus gewachsen ist. Kürzlich feierten wir 50 Jahre Frauenstimmrecht. Hast du mitgefeiert? Ja sicher. Ich komme aus einer Kultur, in der die Frauen ebenso wie Männer die Möglichkeit haben zu studieren und die beiden Elternteile sich die Hausarbeit und das Einkommen aufteilen. Erst in der Schweiz habe ich realisiert, dass dies nicht selbstverständlich ist und dass hier die Frauenrechte viel später gekommen sind und ich habe wahnsinnig Respekt vor den Frauen, die damals für das Frauenstimmrecht gekämpft haben. Es überraschte mich, dass die Rollenverteilung hier viel traditioneller ist. Du lebst in einem Männerhaushalt. Magst du uns davon erzählen?

(Lacht) Ja, mit meinen drei Söhnen (29 Jahre, 15 und 12), wobei der Älteste bereits ausgezogen ist, und meinem Mann, Franz. In einem Männerhaushalt muss ich schon schauen, dass ich nicht zu kurz komme, dass ich mir meine Auszeiten nehme und nicht immer nur gebe. Zu meinem inneren Ausgleich pflege ich immer sehr gerne meine Frauennetzwerke. So spüre ich, dass in der Welt beides existiert. Wir treffen uns bei dir im «Gönn dir»-Raum. Was hat dich zu dieser Idee inspiriert?

Während des ersten Lockdowns erfuhr ich, dass ich meinen bisherigen Job als Sprachlehrerin am BZZ nach sieben Jahren verlieren würde. In dieser Zeit habe ich aber auch viele kreative, talentierte und innovative Menschen aus unserer Region kennen gelernt. Da kam mir die Vision, ihnen einen Raum und eine Gelegenheit zu bieten. Im Herbst 2020 entstand so das Projekt «Gönn dir». Es ist ein Angebot und ein Raum für besondere Wünsche: Nachhaltige Erlebnisgeschenke, um einander eine persönliche Freude zu schenken, interessante Workshops, Kurse und besondere Begegnungen. Etwa eine Lernstunde über den Hund, künstlerische Gestaltung und Geschichten für Klein und Gross, Zirkusakrobatik, Grundkurs Meditation, Wildkräuterkurse und vieles mehr oder aber einfach ein gemütlicher Diskussionsabend.

Was ist dir wichtig im Alltag?

In meiner jetzigen Lebensphase ist mir wichtig, Wege zu finden, um mit Menschen und Natur in Einklang zu sein, achtsam durch den Alltag zu gehen, lokales Gewerbe zu berücksichtigen und einander Freude zu bereiten und sich gegenseitig zu unterstützen. Und was wünschst du dir für dein Leben als Frau, als Mutter, als Mensch und somit Teil dieser Welt?

Als Mutter wünsche ich mir, dass ich es schaffe, immer eine gute Beziehung mit meinen Kindern zu haben, dass wir einander zuhören, begleiten und unterstützen. Meinen Kindern wünsche ich, dass sie glücklich sind, dass sie aber auch andere glücklich machen können.Als Frau wünsche ich mir, dass ich mich beruflich und geistig weiterentwickeln kann und dass ich mich selbst immer mehr finde. Als Mensch aus einer anderen Kultur und mit einer anderen Muttersprache möchte ich weniger auf das Trennende schauen, sondern immer mehr darauf achten, was uns verbindet, welche Werte wir teilen, um ein gutes, gemeinsames Leben führen zu können.

Dein Schlusswort … Ich glaube, dass wir gerade in der momentanen Situation unser eigenes Leben ganz bewusst neu anschauen sollen. Du kannst nicht die ganze Welt verändern, aber du kannst in deinem Kreis, in den eigenen Gedanken und in deinem Verhalten etwas verändern. Und dadurch verändert sich die Welt.

Foto: Franziska Keller

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