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Von den Labyrinthen in der Loipe

Von den Labyrinthen in der Loipe Von den Labyrinthen in der Loipe

Die Familie Neyer erringt zahlreich in Einsiedeln Erfolge auf der Matte. Die Familie Müller – Lavio, Flurina, Gian-Andri, Corsin und Nicola – verliert selten die Orientierung auf Skiern. Demnächst starten alle fünf Ende Februar in Estland bei der EM und WM.

Die Familie Müller ist mit fünf Personen demnächst bei der Ski-OL-WM und -EM in Estland am Start

WOLFGANG HOLZ

Sie sind ja eine tolle Familie: Gleich fünf Personen betreiben Ski-Orientierungslanglauf. Wie kommts zu diesem speziellen Sporthobby der Familie? Nicola Müller: Wir Kinder sind durch unsere Eltern zu diesem spannenden Hobby gekommen beziehungsweise durch die ältere Schwester Seraina, welche heute aber kaum mehr wettkampfmässig unterwegs ist. Wir sind alle in unserem schönen Wintersportort Einsiedeln aufgewachsen und haben so früh mit Wintersport und dem Orientierungslauf angefangen. So lag es auf der Hand, dass wir durch unsere Eltern früh zu OL- und Ski-OL-Wettkämpfen mitgenommen wurden und uns die Faszination seither nicht mehr losgelassen hat. Unsere Eltern, OL-Läufer seit Kindsbeinen, haben ihrerseits mit dem Aufkommen der Skating-Technik Ende der 80er-Jahre mit Ski-OL angefangen.

Warum gerade Ski-Orientierungslauf? Ist Ski-Langlauf in der Loipe nicht anstrengend genug? Beim Langlaufen gewinnt jener mit den schnellsten Beinen und Armen. Im Ski-OL jedoch gewinnt jener, dessen Kopf die schnellen Beine und Arme am zügigsten durchs Gelände dirigieren kann und dadurch am schnellsten vom Start an den vorgegebenen Fixpunkten vorbei ins Ziel gelangt. Das ist die grosse Faszination an unserem Sport, dass man nur so schnell fahren darf, dass man das Ziel nicht aus den Augen und damit unnötig Zeit verliert. Und der kürzeste Weg ist je nach Schnee- und Loipenverhältnissen und Geländetopografie eben selten der schnellste, das gilt es abzuschätzen und fehlerfrei umzusetzen. Egal, in welcher Sportart, wenn man der Beste sein will, muss man immer an und über seine psychischen und physischen Grenzen gehen, weshalb man nicht sagen kann, Ski-OL sei anstrengender als Langlauf. Wenn man versucht, mehr als 100 Prozent zu geben, wird es immer anstrengend sein, egal welche Tätigkeit man ausübt. Welche Distanzen werden denn gewöhnlich im Ski-OL zurückgelegt und wie funktioniert denn so ein OL überhaupt – bekommt man da ein Ziel genannt und muss man dann gemäss Karte im Schnee auf Skiern losrennen? Ski-OL funktioniert gleich wie OL. Am Start erhält jeder eine Karte, auf welcher eine vorgegebene Anzahl an Kontrollposten eingezeichnet sind, welche jeder Läufer in der vorgeschriebenen Reihenfolge ablaufen und quittieren muss. Der Unterschied zum Fuss-OL ist jener, dass wir Ski-OL-Läufer eigentlich nur auf den vorher gespurten Loipen unterwegs sind und die Posten an der Loipe stehen. Was bedeutet das konkret?

Das heisst, mit einem Schneetöff werden möglichst viele ungefähr 1 Meter breite Spuren im Laufgebiet gefahren, welche aus der Vogelperspektive ein bisschen einem Labyrinth ähneln. Auf diesen Scooterspuren stehen unsere Kontrollpunkte, welche wir so schnell wie möglich mit Skiern, egal mit welcher Technik, ablaufen müssen. Es ist erlaubt, auch neben den Spuren eine direktere Route zu nehmen. Das muss aber je nach Neuschneemenge und Schneebeschaffenheit, im Weg stehender Objekte wie Bäche, Zäune oder Steinmauern, aufwärts oder abwärts, blitzschnell eingeschätzt werden. Eine Fehleinschätzung kann hier viel Zeit kosten.

Und wie lange müssen Sie jeweils laufen?

Es gibt mehre Distanzen. Bei der Langdistanz werden bei der Elite- Kategorie Distanzen von 20 bis 30 Kilometer, in der Mitteldistanz etwa 10 Kilometer und im Sprint etwa 3 bis 5 Kilometer zurückgelegt. Wie oft verliert man die Orientierung dabei – oder hat man beim OL einen Kompass für den Notfall in der Tasche? Im Fuss-OL im Sommer hat jeder Läufer immer einen Kompass dabei, weil im dichten Wald sehr leicht die Orientierung verloren gehen kann. Im Ski-OL ist es von Person zu Person unterschiedlich. Und es hängt auch vom Gelände ab, ob man einen Kompass mitnimmt, weil man üblicherweise auf einer Loipe unterwegs ist, und somit ja immer einen Anhaltspunkt hat, in welche Richtung man fährt. In der gebirgigen Schweiz ist meist auch klar, wo Norden ist, in flacheren Gegenden mit viel Wald wie in Skandinavien oder dem Baltikum ist das hingegen ohne Kompass schon schwieriger. Hört sich ein bisschen abenteuerlich an …

Je besser man ist, desto weniger sollte man sich verirren, vielleicht verpasst man einmal im «Gejufel» die Loipe, die exakt am anzupeilenden Posten vorbeiführt. Aber es findet eben nicht immer jeder die gleich schnelle Route, und das kann rasch einmal die eine oder andere Minute kosten. Zudem kann bei riskanten oder ungeschickten Manövern rasch Material zu Bruch gehen, seien es die Skier oder die Stöcke. Wie trainiert man Ski-Orientierungslauf überhaupt? Die meiste Zeit während der Saison trainieren wir wie die Langläufer. Viel physisches Training, Krafttraining und Techniktraining. Mehrmals im Jahr haben wir vom Schweizer Nationalkader Trainingslager/Weekends, bei welchen wir Wettkämpfe und Trainings auf vorgespurten «Labyrinthen» machen und dadurch unsere Abläufe und Fähigkeiten des Kartenlesens trainieren können. Hinter so einem Kartentraining steckt sehr viel Arbeit, weshalb man das nicht einfach «so schnell, schnell» zu Hause machen kann. Es braucht eine Karte mit einer abzulaufenden Bahn, viele Kilometer an Schneetöffspuren, eine Bewilligung für die Spuren, Helfer, welche die Kontrollposten im Gelände ans richtige Ort setzen … Wow! Am 20. Februar fliegt nun fast die ganze Familie Müller zu den Welt- und Europameisterschaften im Ski-OL nach Estland. Reisen Sie alle zusammen oder wie sieht die Organisation aus?

Wir werden alle zusammen mit den anderen selektionierten Läufern der Schweiz anreisen. Wir fliegen von Zürich via Helsinki bis Tallinn. Wir müssen aber alle 72 Stunden vor dem Abflug und direkt nach der Landung einen Coronatest machen, damit wir einreisen und starten dürfen. Vom Flughafen in Tallinn geht es dann direkt in die Hotel-Quarantäne, in welcher wir auf das Testergebnis vom Flughafen warten müssen. Im Fall eines positiven Tests müssen alle vom Team noch weitere 10 Tage in Quarantäne bleiben und wir reisen alle ohne die Teilnahme an den Wettkämpfen wieder nach Hause. Ist das nicht sehr teuer, wenn die Hälfte der Familie ins Baltikum fliegt, oder erhalten Sie finanzielle Unterstützung vom OL-Skiverband? Spitzensport ist eigentlich immer ein teures Hobby, vor allem im Winter. Einen Selbstbehalt muss jeder Athlet selbst finanzieren, der Rest wird vom Schweizer OL-Verband übernommen. Durch Leistungsprämien und Sponsoren kann jeder Athlet diese Kosten wieder etwas reduzieren. Nicola, Flurina und Corsin erhalten die Skier von Rossignol, Gian-Andri von Kästle. Die Stöcke bekommt Nicola von Swix und Gian-Andri von Excel. Nicola wird zusätzlich von der Factory Fitness in Einsiedeln unterstützt. Welches sind die sportlichen Ziele der Familie?

Allgemein ist das Ziel von allen, dass wir unser Potenzial bestmöglich abrufen können. Das bedeutet, dass wir alle physisch so schnell wie möglich sein wollen, aber trotzdem keine Fehler begehen und möglichst viel Spass haben. Resultatmässig sollte es allen in ihrer Kategorie möglich sein, in die Top Ten vorzustossen. Lavio gehört zu den jüngsten Teilnehmern, für ihn gilt es vor allem, Erfahrungen zu sammeln. In Einsiedeln ist die Familie Neyer mit fünf Ringern legendär. Bei Ihnen betreiben ebenfalls fünf Personen erfolgreich Ski-OL. Wird man da in der Öffentlichkeit speziell wahrgenommen?

In einem ländlichen Dorf wie Einsiedeln kennt man sowieso viele. Dadurch, dass wir eine sehr sportliche Grossfamilie sind, und unser Vater eine Zahnarztpraxis im Dorf führt, sind wir sicherlich nicht gerade unauffällig unterwegs – aber speziell wahrgenommen fühlen wir uns nicht. Jede Familie ist auf ihre eigene Art und Weise speziell und wird dadurch definiert und so wahrgenommen.

Ist das ein schönes Gefühl, welches einen in der Familie besonders zusammenschweisst, wenn so viele Personen das gleiche Hobby teilen? Ich denke, dass unser super Familienzusammenhalt und Vertrauen sehr auf unserer gleichen sportlichen Basis begründet sind. Durch die gleichen Interessen verstehen wir uns sehr gut, und es gibt sehr selten Meinungsverschiedenheiten. Zu wissen, dass die Familie immer für einen da ist und Verständnis für deinen Sport hat, gehört zu den schönsten Gefühlen, welche man erleben kann.

Letzte Frage: Hat sich in Ihrer Familie schon einmal jemand schrecklich verirrt beim Ski-OL? Bis jetzt hat noch immer jeder unserer Familie den Heimweg alleine wieder gefunden, die einen schneller, die andern langsamer. Wobei 5 Minuten «Verirrung» an einem wichtigen Wettkampf halt schon resultatmässig «schrecklich » sind …

Die Müller-OL-Ski-Familie fährt nach Estland (hinten, vorne, von links nach rechts): Lavio (13), Flurina (19), Corsin (15), Nicola (21) und Gian-Andri (17). Foto: zvg «Bis jetzt hat noch immer jeder unserer Familie den Heimweg alleine wieder gefunden, die einen schneller, die anderen langsamer.»

Nicola Müller

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