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Grosser Einsatz auf der Gasse

Grosser Einsatz auf der Gasse Grosser Einsatz auf der Gasse

Ugo Rossi, Seelsorger in der Pfarrei Einsiedeln, ist an der Zürcher Langstrasse unterwegs, um Mahlzeiten für Bedürftige zu verteilen

In Zeiten der Corona-Krise ist die Not noch grösser geworden – ganz besonders für Prostituierte im Milieu. Ein Augenschein vor Ort auf der Gasse, wo sich Pfarrer Ugo Rossi der Neuevangelisierung widmet: «Es kommen auch viele Neue zur Essensabgabe, denen das Geld nicht mehr reicht.»

MAGNUS LEIBUNDGUT

Punkt 16 Uhr geht die Reise im Klosterdorf ab: Pfarrer Ugo Rossi bricht auf zum Abendeinsatz in Zürich – den Schneeverwehungen in Einsiedeln und dem Coronavirus zum Trotz. Ausserordentlicherweise ist der 46-jährige Seelsorger der Pfarrei Einsiedeln an einem Dienstagabend im Einsatz.

Auf der Autofahrt in Richtung Biberbrugg, Schindellegi und weiter auf der A3 in Richtung Zürich werden Details des Einsatzes besprochen: Hauptsächlich geht es darum, 200 Mahlzeiten abzuholen und an Bedürftige abzugeben. Die Mahlzeiten werden vom Verein Incontro finanziert und vom Hotel 25hours zum Selbstkostenpreis zubereitet. Hinzu kommt Hilfe von Pfarreien aus Seebach und Wiedikon, die zusammen mit Randständigen kochen und Mahlzeiten zubereiten.

Wenn Menschen Hunger leiden

Ebenso unterstützt ein asiatisches Restaurant in Zürich die Aktion. Alles in allem sind es schliesslich bis zu 300 Mahlzeiten, die an Bedürftige abgegeben werden – und das jeden Abend, pünktlich um 17.30 Uhr.

Fürs Erste besammeln sich die Freiwilligen in der Zentrale des von Schwester Ariane gegründeten Vereins Incontro am Helvetiaplatz: Eine stattliche Zahl von 15 Freiwilligen macht sich mit Rollwägeli auf den Weg an die Langstrasse.

Auf den Wagen sind unübersehbar die knallgelben Kisten mit den Mahlzeiten aufgeladen. Bevor sich der Tross in Bewegung setzt, erfolgt ein Appell – fast wie im Militär. Schliesslich muss die Aktion gut organisiert sein, jeder soll genau wissen, was sein Job ist. Die Verteilaktion steht an diesem Abend unter der Leitung von Claudia. Bei ihr laufen alle Fäden zusammen.

Der Tross setzt sich in Bewegung – mit Freiwilligen, die zum ersten Mal mit dabei sind. Auffällig viele junge Leute helfen mit: Die von Schwester Ariane initiierte Aktion «Broken Bread Take away» hat medial für viel Aufsehen gesorgt. Der Umstand, dass mitten in der reichen Schweiz Leute an Hunger leiden und kein Geld mehr für Lebensmittel haben, hat eine grosse Hilfeleistung ausgelöst.

Zum letzten Mal mit dabei ist Tanja, eine junge Frau, die tags darauf für ein halbes Jahr nach Costa Rica reist. Bei ihr nährt sich das Interesse für diese Arbeit auch aus einem christlichen Bewusstsein heraus: Tanja ist Mitglied einer Freikirche. Sie kann sich gut vorstellen, nach ihrer Rückkehr in die Schweiz wieder für die Aktion «Broken Bread Take away» im Einsatz zu stehen. Die Ersten kommen um 16 Uhr

Um 17.30 Uhr trifft der Tross hinter dem Hotel 25hours an der Langstrasse 150 ein. Ugo Rossi spannt ein Wimpelband über die Gasse und setzt Kegel auf die Strasse. Sie sollen für coronabedingte Abstände der Wartenden in der Schlange sorgen. Naturgemäss herrscht eine Maskentragpflicht – auch Schutzmasken werden abgegeben für Leute, die noch keine haben.

Bereits haben sich erste Bedürftige zuvorderst in der Schlange eingereiht. Die ersten Leute kommen bereits um 16 Uhr, die auf keinen Fall die Abgabe verpassen wollen. Wenn die Warteschlange zu gross ist, kann es vorkommen, dass die Letzten leer ausgehen und ohne warme Mahlzeit nach Hause gehen müssen.

Für die Ordnung in der Warteschlange ist heute Ugo Rossi zuständig: «In der letzten Zeit ist es mitunter turbulent zu- und hergegangen. Es ist Chaos entstanden. Manchmal entstehen Streitereien, wenn Leute nicht hinten anstehen wollen, sondern sich in die Warteschlange hineindrängen. Das löst natürlich Empörung aus.» Rentner geraten in die Armut

Ganz zuvorderst in der Warteschlange sitzt eine ältere Frau auf einem Stuhl. Sie ist so gebrechlich, dass sie nicht mehr stehen kann. An zweiter Position befindet sich Sonja Mouzourakis, eine 68-jährige auf Kreta geborene Griechin, die am 19. Mai 1968 in die Schweiz gekommen ist und in Zürich in Optikergeschäften gearbeitet hat: «Meine AHV reicht aus, dass ich die Miete und die Krankenkassenrechnung bezahlen kann. Für das Essen habe ich kein Geld mehr übrig.» In der Tat ist es auffällig, dass viele Rentner für die Essensabgabe anstehen. Ugo Rossi bestätigt diesen Eindruck: «Ich kenne unterdessen acht, neun italienische Rentner, die regelmässig hierher kommen. Die sind in den 70er-Jahren in die Schweiz gekommen und haben ihr Leben lang gearbeitet. Und sind im Alter nun in der Armut gelandet, weil die erste Säule nicht zum Leben ausreicht.» Wer Randständige und Obdachlose erwartet, die für die Mahlzeiten anstehen, wird überrascht: Es sind mehrheitlich Working- Poor-Leute, die auf die Abgabe angewiesen sind. Menschen, deren Not die Corona-Pandemie noch verstärkt hat: Ihre Situation ist durch die Wirtschaftskrise noch prekärer geworden.

Miteinander das Brot teilen

Um 18 Uhr stehen bereits über hundert Leute an: Die Schlange wird grösser und grösser. Die Bedürftigen freuen sich auf die Mahlzeitenverteilung – heute können sie gar unter drei Menüs auswählen: Es gibt Chili con Carne, Pasta oder Frühlingsrollen, mexikanisches, italienisches oder chinesisches Essen. Grundsätzlich gibt es eine Portion pro Person. Die Helfer drücken auch mal ein Auge zu und geben eine zweite Portion ab, wenn dies verlangt wird. An vorderster Front mit dabei ist Julia, die zum ersten Mal als Freiwillige im Einsatz steht: Die junge Frau hat dank einer Freundin von der Aktion erfahren und sich beim Verein Incontro gemeldet.

Julia ist begeistert über die Aktion «Broken Bread Take away»: «Die anstehenden Leute sind ausserordentlich freundlich und herzlich – trotz ihrer grossen Not.» In der Tat beweisen einige unter ihnen Humor und sind nicht um einen Spruch verlegen. Eine schwarze Frau fragt mit Schalk hinter den Ohren, ob sie die Fotokamera des Schreibenden auch gleich gratis mitnehmen dürfe.

Es gilt hinten anzustehen

Nach der Mahlzeitenabgabe führt der Weg die Bedürftigen auch noch zu den Wägeli mit Kleidern: Viele Leute sind froh in diesen kalten Zeiten, sich mit warmen Kleidern eindecken zu können, die von Privaten gestiftet werden.

Auch Kosmetikartikel, Snacks und Schokolade gibt es zum Mitnehmen. Die Stimmung erinnert von ferne an einen Bazar – mit dem Unterschied, dass Geld für einmal keine Rolle spielt: Die Leute haben gar keines.

Währenddessen ist Ugo Rossi voll gefordert: Mitten in die lange Warteschlange hat sich ein Mann hineingedrängt, der keine Lust hat, hinten anzustehen. Die Empörung ist gross, Aggressivität liegt in der Luft. Ugo Rossi greift resolut ein und verweist den Mann des Feldes: «Es ist ein etwas undankbarer Job, den ich heute hier mache. Ich muss den Polizisten markieren, streng auftreten und für Ordnung sorgen. Aber ohne dies würde hier schnell Chaos herrschen. Wir versuchen allerdings immer, auch das Gespräch zu suchen und den Leuten klar zu machen, dass wir schliesslich alle zu einer Familie gehören.» Es bleibt aber alles in allem ein ruhiger Abend, die Leute verhalten sich sehr diszipliniert und aufgeräumt.

Drogensüchtige im Fokus

Um 19 Uhr ist Aufbruch angesagt: Die Freiwilligen werden aufgeteilt. Eine Gruppe geht mit der Chefin Claudia ins Rotlichtmilieu, um dort Prostituierten in ihren Etablissements Mahlzeiten abzugeben.

Ugo Rossi führt derweil eine zweite Gruppe an, die Schokolade, Snacks und weitere Produkte mit den Wägeli an die Ecke Langstrasse/ Militärstrasse transportiert: Hier, an einem Knotenpunkt der Drogen- und Mediszene, werden Waren an Obdachlose und Randständige verteilt, die es nicht mehr schaffen, sich an der Verteilaktion der Mahlzeiten entlang des SBB-Trassees einzufinden. Hier besteht die Klientel mehrheitlich aus Drogensüchtigen, denen der Stoff wichtiger ist als das Essen.

Um 19.30 Uhr geht der Schlussappell in der Zentrale des Vereins Incontro am Helvetiaplatz über die Bühne. Ugo Rossi will wissen, wie die Freiwilligen den Einsatz empfunden haben. «Grossartig, berührend, aufgeräumt, gelungen», lautet der einhellige Tenor. «Die Stimmung war sehr gut, die Atmosphäre sehr friedlich», sagt Julia.

Einer erwähnt, dass die Vegi- Welle definitiv auch bei der Aktion «Broken Bread Take away» angekommen sei: Die vegetarischen Gerichte seien weggegangen wie warme Semmeln.

Hoffnung trotz aller Not

Ugo Rossi verabschiedet Tanja, die am Dienstagabend ihren letzten Einsatz als Freiwillige hatte: «Ich hoffe, Du magst nach Deiner Reise nach Costa Rica wieder zu unserer Aktion zurückkehren.» Der Pfarrer aus Einsiedeln fragt zum Schluss die «neuen» Freiwilligen, die zum ersten Mal im Einsatz standen, ob sie Interesse hätten, sich weiterhin an der Aktion zu beteiligen. Alle wollen weitermachen: Die Begeisterung über die Aktion ist den Freiwilligen ins Gesicht geschrieben.

Ganz zum Schluss geht es ans Aufräumen und Putzen: Die Wägeli und Kisten müssen gereinigt und desinfiziert werden. Auf dass sie am nächsten Tag wieder vollbepackt Richtung Landstrasse rollen können: Um Hilfe zu bringen für Menschen in Armut – ein hoffnungsvoller Lichtschimmer in Elend und Not. Zeichen dafür, dass nicht alles verloren ist in diesen dunklen Zeiten.

Die freiwilligen Helfer werden auf ihrer Tour durch die Langstrasse von Ugo Rossi angeführt (oberes Bild). In corona-konformem Abstand zueinander stehen die Bedürftigen an: Jeden Abend, pünktlich um 17.30 Uhr, starten die Freiwilligen im Auftrag des Vereins Incontro mit der Mahlzeitenabgabe (unteres Bild).

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