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«Eine Art Wohlsein herstellen»

«Eine Art Wohlsein herstellen» «Eine Art Wohlsein herstellen»

Der Einsiedler Hotelier Daniel Kellenberger bietet ab sofort gratis eine psychologische Beratung an

Der Einsiedler «Linde»Hotelier Daniel Kellenberger bietet ab sofort gratis Gespräche an für Personen, die über ihre Probleme reden wollen oder die Rat suchen. Grund: Seit dem Corona-Lockdown hat der frühere Psychologe zahlreiche Menschen kennengelernt, die unter der Pandemie leiden.

WOLFGANG HOLZ

Herr Kellenberger, Sie schreiben in Ihrer Anzeige, dass Sie ab sofort wieder in Ihrem ehemaligen Beruf als Psychologe tätig sind. Was machen Sie denn sonst? Ich betreue hier im Hotel Gäste. Dazu mache ich noch einige andere Sachen: Flaschen und Karton entsorgen, kleinere Reparaturen und Botengänge. Im Augenblick ist unser Hotel zwar offen, aber wir haben sehr wenig Gäste. Warum dieser Schritt jetzt? Hat das mit Corona zu tun? Das hat nur mit Corona zu tun. Sehr viele Leute sind tief besorgt und verängstigt. Aus ganz verschiedenen Gründen. Eine Frau erzählte mir, sie könne seit Tagen nur noch weinen. Ausser den Existenzängsten, die unsere Mitarbeiter und ich wegen dem jetzigen und möglicherweise weiteren Lockdowns haben, bleibt mir viel freie Zeit. Diese Zeit möchte ich gut einsetzen. Für andere und auch für mich. Und deshalb bieten Sie nun kostenlose psychologische Beratungen in Ihrem Hotel Linde an? Warum tun Sie das? Ich weiss, dass es Menschen gut tut, wenn sie frei über ihre Ängste und Probleme sprechen können. Wenn ihnen jemand zuhört. Das tut mir auch gut. Schon während des ersten Lockdowns habe ich eine Art Telefondienst für unsere Gäste eingerichtet. Dieses Angebot haben 20 bis 30 Personen wahrgenommen. Jetzt biete ich meine Gespräche in einem anderen Rahmen an – denn ich denke, dass es noch besser ist, wenn die Leute direkt zu mir kommen.

Wie lange dauern die Gespräche bei Ihnen und wie gehen Sie dabei vor? Ich kann sicher nicht die grosse psychologische Beratung oder Therapie anbieten. Wenn jemand eine derartige Möglichkeit sucht, ist es wohl besser, sich an eine andere Fachperson zu wenden. Ich kann einfach das Gespräch anbieten. Und vor allem zuhören.

In welchen Bereichen haben Sie denn schon als Psychologe gearbeitet und welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht? Ich habe mit behinderten Kindern gearbeitet. Dann mit Kindern, die Schul- oder andere Probleme hatten. Mit diesen Kindern habe ich Spieltherapien gemacht, um die tieferen Zusammenhänge zu erkennen und das Kind spielend zu Lösungen zu führen. Die Beratung der Eltern war dabei ein wichtiger Teil. Auch in der Beratung von kleineren und mittleren Geschäften war ich schon tätig. Worauf führen Sie denn plötzlich die Häufung von psychischen Krankheiten zurück? Es herrscht derzeit eine ganz grosse Unsicherheit. Es gibt Leute, die panische Angst vor dem Virus haben. Andere Leute fürchten um ihre Existenz, um ihren Arbeitsplatz. Wiederum andere haben Angst vor einer Diktatur, vor Zensur und den politischen Folgen infolge der Coronamassnahmen. Es ist eine Spaltung in unserer Gesellschaft zu spüren, die sehr ungewöhnlich erscheint und auch Angst auslösen kann. Die Schweiz ist ja immer ein Land gewesen, das politische Kompromisse hervorgebracht hat. Das Vertrauen in diesen Mechanismus funktioniert im Moment nicht wie gewohnt. Haben Sie denn persönlich auch Angst vor Corona? Nein, ich habe keine Angst vor dem Virus – obwohl ich eigentlich zur sogenannten Risikogruppe gehöre. Ich habe mit zahlreichen Personen gesprochen, die sich mit dem Coronavirus angesteckt haben, die aber die Krankheit, oft mit geringen Symptomen, überstanden haben. Dies hat in mir die Überzeugung gefestigt, dass man Corona gut überleben kann. Das hat übrigens neulich auch die Weltgesundheitsorganisation so bestätigt. Sprich: die Überlebensrate ist im Grunde sehr hoch. Ich habe aber eine grosse Angst vor den wirtschaftlichen und politischen Folgen, welche aus dieser Krise und aus den Massnahmen zu deren Bewältigung entstehen könnten.

Wie können Sie den Menschen, die zu Ihnen kommen, konkret helfen? Es geht, wie gesagt, darum, den Menschen, die zu mir kommen, zuzuhören. Das hilft vielen schon sehr. Ich habe dabei als Zuhörer keinerlei Vorurteile oder vorgefertigte Meinungen. Ich möchte eine Art Wohlsein herstellen können. Sie schreiben in Ihrer Anzeige, wir seien alle eine Familie, und es tue Ihnen auch gut, wenn Sie anderen zuhören können. Wie muss man das verstehen? Das ist einfach so. Hunde sind Hunde und verständigen sich durch Bellen miteinander. Menschen sind Menschen und können miteinander sprechen. Ich nehme auch immer gerne an Gesprächen unserer Gäste teil, am Stammtisch beispielsweise. Man beginnt ein Gespräch, und andere Personen erzählen einem etwas aus ihrer Welt. Von ihren Sorgen. Von ihren Ängsten. Von ihrem Glück. Ich habe aus solchen Gesprächen immer mehr gelernt als aus akademischen Erkenntnissen während meines Studiums.

Was sind aus Ihrer Sicht die dringendsten Probleme, die Menschen heutzutage seelisch belasten? Es ist einfach diese momentane Corona-Situation, in der viele Menschen eine Art Urvertrauen verloren zu haben scheinen. Wir wirken plötzlich unbehaust.

«Es gibt Leute, die panische Angst vor dem Virus haben. Andere Leute fürchten um ihre wirtschaftliche Existenz, um ihren Arbeitsplatz.

Daniel Kellenberger, Psychologe und Hotelier

Daniel Kellenberger, Besitzer des Hotels Linde in Einsiedeln, ist auch ein grosser Kunstsammler – der überall in seinem Haus Kunstwerke aufgehängt hat.

Foto: Wolfgang Holz

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