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«Die Armut nimmt überhand – in unserem reichen Land»

«Die Armut nimmt überhand – in unserem reichen Land» «Die Armut nimmt überhand – in unserem reichen Land»

Ugo Rossi hat sich mit Haut und Haar und grosser Leidenschaft der Gassenarbeit in Zürich verschrieben: Der 46-jährige Pfarrer aus Bennau will den Randständigen in der Limmatstadt, die in Not und Elend leben, Hoffnung geben in dunklen Zeiten.

MAGNUS LEIBUNDGUT

Seit wann schlägt Ihr Herz für die Gassenarbeit in Zürich?

Seit Ende August arbeite ich für den Verein Incontro in Zürich und verteile an Abenden an der Langstrasse warme Mahlzeiten an Bedürftige. Inspiriert wurde ich für diese Arbeit von Schwester Ariane: Seit Ende 2017 begleitet Schwester Ariane Menschen auf der Gasse im Gespräch. Einmal pro Woche ging sie jeweils am Samstagabend mit einer Gruppe junger Freiwilliger auf die Langstrasse, verteilte Lunchpakete und baute vertrauensvolle Beziehungen auf. Als ich mich selbst beruflich neu orientiert hatte, erkannte ich, dass ich nicht nur Pfarreiarbeit leisten möchte, sondern eine weitere andere Arbeit in Angriff nehmen wollte: zu helfen, im Dienste der Menschen. In welchem Pensum betreiben Sie diese Arbeit? Es handelt sich bei dieser ehrenamtlichen Arbeit um ein Dreissig- Prozent-Pensum, das ich zumeist mittwochs und freitags erfülle. Wie meist bei ehrenamtlicher Arbeit übersteigt die effektiv geleistete Arbeit das Pensum, dafür ist unsere Arbeit gratis (lacht): Wir beziehen ja keinen Lohn. Pro Abend sind etwa zehn Freiwillige im Einsatz – mit aufsteigender Tendenz. Weil coronavirusbedingt die Not immer grösser und damit die Schlange an Bedürftigen immer länger wird, steigt auch laufend die Zahl an Freiwilligen.

Wie hat sich die Situation seit der Corona-Pandemie verändert? Die Situation hat sich laufend verschlimmert – vor allem jetzt inmitten der zweiten Welle, in diesem erneuten Lockdown. Die Armut nimmt überhand – und dies in unserem reichen Land! Wir beobachten einen Zuwachs von zwei Drittel der Leute, die vor der Corona-Pandemie zur Essensverteilung gekommen sind. Immer mehr Leuten geht das Geld aus und sie können sich nichts mehr zu essen kaufen. Es hat viele Working-Poor-Leute unter der Klientel. Diese haben vielleicht schon vor Corona prekär gelebt. Dann ist die Krise gekommen. Ein Mann muss Kurzarbeit machen, seine Frau hat ihren Job verloren – und schon ist das Paar mitten in der Misere. Als beide gearbeitet haben, hat das Geld knapp gereicht – jetzt nicht mehr. Wie kommen Frauen über die Runde, die sich wegen des Coronavirus nicht mehr prostituieren dürfen? Das ist das grösste Problem: Prostituierte befinden sich derzeit in einer äusserst schwierigen Situation. Es spielen sich haarsträubende Szenen ab. Faktisch stehen die Prostituierten unter Berufsverbot: Wegen des Coronavirus ist ihnen das Arbeiten untersagt. Trotzdem müssen sie Mieten bezahlen: Für ein Zimmer blättern sie 100 bis 120 Franken pro Tag hin – ohne ein Auskommen bestreiten zu können. Viele sind illegal hier, können also keine Arbeitslosen-Unterstützung beantragen. Sowieso haben die meisten Angst vor den Ämtern. Also sind sie erst recht darauf angewiesen, Unterstützung zu erhalten. Weil einige unter ihnen nicht an die Langstrasse zur Mahlzeitenverteilung kommen, suchen wir sie in ihren Etablissements auf.

Hat es für Obdachlose genügend Schlafplätze – jetzt mitten im Winter in dieser Kälte?

Im Pfuusbus der Pfarrer Ernst Sieber Werke gelten strenge Regeln. Da fliegt immer wieder einmal einer hinaus. Leute von der Gasse sind nicht immer die einfachsten Personen: Und wenn sie ausfällig werden, werden sie aus den Notschlafstellen hinausgeworfen. Der Lebensstil von Drogensüchtigen und Alkoholikern ist nun einmal wenig kompatibel mit unserer Gesellschaft. Dementsprechend ist eine Integration von Randständigen kein einfaches Unterfangen. Aber die Kälte in diesem Winter ist natürlich ein Problem. Immerhin haben wir es nun geschafft, drei Obdachlose im 25-Stunden-Hotel unterzubringen – dank einer Spende seitens des Stadtverbandes. Welche Begegnungen haben Sie besonders bewegt? Da gibt es viele davon: Es ist ja auch eine schöne Arbeit! Es geht darum,diesen Menschen Würde zu schenken, ihnen als Mensch zu begegnen. Im Alltag würde man an einem Süffel einfach so vorbeilaufen. Im Gespräch mit ihm bemerkt man, welch wunderbarer Mensch hinter diesem Süffel steckt. Hinter jedem Alkoholiker und Drogensüchtigen steckt eine Geschichte. Es bewegt sich ja niemand freiwillig einfach so in das Elend und in die Not. Wie können Sie als Pfarrer in geordneten Verhältnissen Menschen am Rande der Gesellschaft verstehen? Ich verstehe es eben gerade nicht, zumindest nicht komplett (lacht), dass man so auf der Gasse landen kann. Aber das spielt auch gar keine Rolle. Auch wenn ich einen Randständigen nicht wirklich verstehe, kann ich ihn trotzdem als Menschen annehmen. Typische Gassenleute haben ihren speziellen Groove, der ist gewöhnungsbedürftig. Aber nur so zum Spass führen die sich nicht so auf. Jeder hat seine eigene Biografie, die ihn an diesen Punkt des Lebens geführt haben mag.

Sind Sie auf den Spuren von Bruder Franziskus oder eher von Pfarrer Ernst Sieber? Weder noch (lacht): Ich würde beide nicht unbedingt zu meinen Vorbildern zählen. Obwohl beide zu ihrer Zeit viel Gutes getan haben. An sich ist der Einsatz für die Ärmsten eine urchristliche Aufgabe. Papst Franziskus betont zu Recht, die Kirche müsse sich an den Rand der Gesellschaft bewegen. Bei Franz von Assisi fällt auf, dass er als Sohn eines reichen Vaters alles aufgegeben hat und selber wirklich arm geworden ist. Er wurde gewissermassen selbst zum Randständigen. Das ist nicht unbedingt mein eigener Weg. Betreiben Sie eine aktive Neuevangelisierung im Sinn einer Mission?

Diese Neuevangelisierung erfolgt von alleine, automatisch. Ich nehme da keine aktive Rolle ein, indem ich Leute zu bekehren versuche. Ich mag mich an eifrige evangelikale Prediger erinnern, die im Herbst auf der Gasse auftauchten, und den Leuten mit der Hölle drohten, falls sie sich nicht zu Jesus Christus bekennen würden. Damit erreicht man bei Gassenleuten nichts. Das ist vergebene Liebesmüh. So muss man diesen nicht kommen. Wir Geistlichen haben unsere Kleider an, die uns als Seelsorger erkennbar machen: Das reicht. Wenn die Leute ein Bedürfnis haben, ein Gespräch über Gott und die Religion zu führen, sind wir für sie da. Wir führen auch Gottesdienste durch. An Weihnachten fand ein sehr berührender Gottesdienst statt, an dem eine ausgesprochen feierliche Stimmung herrschte. Wie unterscheiden sich Menschen im Klosterdorf von den Menschen an der Langstrasse? Es gibt auch im Klosterdorf Menschen, die sich in Not und im Elend befinden. Aber die Armut in Einsiedeln läuft viel versteckter ab: Weil es im Klosterdorf weit weniger anonym zu- und hergeht, sind die Leute kaum bereit, ihre Notlage zu zeigen. Sie schämen sich für ihre Armut und versuchen diese so gut wie es geht zu verbergen.

Sie predigen im vergleichsweise reichen Einsiedeln und sind gleichzeitig auf der Gasse in Zürich im Einsatz, wo Sie mit viel Armut konfrontiert sind. Wie erleben Sie dieses Spannungsfeld?

Ich erkenne weniger ein Spannungsfeld zwischen Zürich und Einsiedeln, das ja nun nicht gerade zu den reichsten Kommunen zählt, sondern eher zum Mittelstand, als vielmehr ein Gegensatz, der sich innerhalb der Limmatstadt abspielt: Da zeigt sich ein grosses Elend just an der Langstrasse, auf der gleichzeitig protzige Autos verkehren. Hundert Meter neben der Langstrasse hat es teure Läden, Banken, Paläste, die im Geld schwimmen – neben Leuten, die hungern. Da zeigt sich die Paradoxie der Schweiz: Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt – und parallel dazu gibt es immer mehr Leute, denen das Geld nicht mehr reicht, um sich Essen zu kaufen. Die Schere zwischen reich und arm öffnet sich immer mehr.

Wie verarbeiten Sie belastende Erlebnisse? Indem ich diese Erlebnisse im Gebet dem Herrgott übergebe. Einfach sind solche Erlebnisse selten: Kürzlich hat mich das Schicksal einer jungen Ungarin sehr bewegt. Sie war schwanger und vollends im Unglück. Indem ich diese Geschichte dem Gebet übergebe, kann ich mich auch wieder davon lösen. Pflegen Sie einen Ausgleich zu Ihren beruflichen Tätigkeiten? Es ist eher umgekehrt: Ich empfinde die Gassenarbeit als einen Ausgleich zu meiner Pfarreiarbeit. Wenn ich eine Entspannung suche, finde ich diese in der Bewegung in der Natur.

Was wünschen Sie sich und anderen für das Jahr 2021?

Ich wünsche mir, dass die Menschen das Mysterium des Glaubens erfahren und darin Kraft finden, ein erfülltes Leben, eins mit dem Ganzen, zu führen.

Zur Person

ml. Ugo Rossi ist am 13. April 1974 in Poschiavo geboren und aufgewachsen. Er besuchte das Gymnasium an der Klosterschule Disentis. Ugo Rossi studierte Theologie in Rom (an der Päpstlichen Universität Gregoriana und an der Accademia Alfonsiana) und wirkte als Vikar in Wädenswil und in St. Franziskus- Zürich. Von 2008 bis 2020 war er Pfarrer in Goldau. Von 2012 bis 2020 amtete Ugo Rossi als Dekan des Dekanats Innerschwyz. Er ist zudem Armeeseelsorger. Seit dem September ist Ugo Rossi Seelsorger in der Pfarrei Einsiedeln und betreut als Vikar die Viertel Bennau, Gross und Trachslau. Zu seinen Hobbys gehören die Natur, das Skifahren und die Gartenarbeit. Ugo Rossi lebt in Bennau.

«Immer mehr Leuten geht das Geld aus und sie können sich nichts mehr zu essen kaufen.» «Viele Working-Poor-Leute haben vielleicht schon vor der Corona-Krise prekär gelebt.» «Prostituierte sind im Berufsverbot – wegen des Coronavirus ist ihnen das Arbeiten untersagt.» «Es gibt auch im Klosterdorf Menschen, die sich in Not und im Elend befinden. »

Ugo Rossi gibt eine Mahlzeit an Sonja Mouzourakis ab: Die 68-jährige Griechin kommt fast jeden Tag an die Langstrasse an die Verteilstelle, um Lebensmittel zu erhalten.

Fotos: Magnus Leibundgut

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