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«Überheblicher Irrglaube, dass wir die Natur beliebig kontrollieren können»

«Überheblicher Irrglaube, dass wir die Natur beliebig kontrollieren können» «Überheblicher Irrglaube, dass wir die Natur beliebig kontrollieren können»

Der Arzt und Kantonsrat Antoine Chaix aus Einsiedeln hinterfragt Corona-Massnahmen für die ganze Gesellschaft. Er sagt, dass im Fokus aller Schutzhandlungen vor allem Spitäler, Altersheime und Risikopatienten stehen müssten.

JOHANNA MÄCHLER

Was wissen Sie als Arzt mittlerweile über das Coronavirus?

Der Hauptunterschied zu meinem Eindruck vor der ersten Welle ist, dass Covid-19 ein wirklich eigenes, für gewisse Menschen schwerwiegendes Krankheitsbild mit gut abgrenzbaren klinischen Eigenheiten verursachen kann. Wir haben in unserem Kanton seit Ausbruch der Pandemie 173 Tote zu beklagen, die in Zusammenhang mit dem Virus gestorben sind (Stand Montag, 18. Januar).

Was können Sie zu dieser Todeszahl bezüglich Übersterblichkeit sagen? Die Übersterblichkeit steht sehr im Fokus des Interesses. Diese nicht ganz einfach zu definierende statistische Grösse wird je nach Sichtweise zum Beweis des Schweregrads oder aber zur Relativierung dessen fast konträr in Anspruch genommen. Die Covid-Problematik auf die Sterblichkeit allein zu reduzieren, ist allerdings zu vereinfachend, weshalb ich mich weniger mit dieser Frage auseinandergesetzt habe.

Trotz strenger Massnahmen in den Seniorenheimen sterben vor allem die dortigen alten Bewohner. Was zeigt uns das? Es zeigt, dass das Virus mit diesen strengen Massnahmen im Kleinen – in den Altersheimen – wie im Grossen – national und international – kaum aufzuhalten ist. Und es bestätigt, dass die Sterblichkeit – im Unterschied zu schweren, aber nicht tödlichen Verläufen – vor allem die Hochbetagten betrifft. Der Altersdurchschnitt der mit Covid Gestorbenen (Stand 13. Januar) ist mit 86 Jahren nach wie vor deutlich höher als die zu den höchsten der Welt zählende Lebenserwartung in der Schweiz.

Als positiv empfinde ich den Umgang vieler Senioren mit der Gefährlichkeit einer Covid-Infektion in ihrem Alter. So haben viele ihre Patientenverfügung mittlerweile angepasst und lehnen eine Hospitalisierung, geschweige denn intensivmedizinische Massnahmen im Falle einer Covid- Infektion, ab. Dass dies auch respektiert wird und sie in ihrer gewohnten Umgebung palliativ würdig begleitet werden können, erachte ich als eine richtige und wichtige Entwicklung. Sind die jetzigen Corona-Massnahmen bei sinkenden Fallzahlen Ihrer Meinung nach noch angebracht? Ist der aktuelle Lockdown II nötig?

Da habe ich persönlich eine deutlich kritische Haltung. Wie vorhin erwähnt, glaube ich nicht, dass diese Pandemie mit den restriktiven Massnahmen im gewünschten Rahmen kontrolliert werden kann. Auch die Nachbarländer, die eine noch härtere Linie seit Langem fahren, scheinen in keiner Weise die Epidemie besser im Griff zu haben. Leider sind die Entscheidungsträger, die Politiker und die beratenden Wissenschaftler in ihrer eigenen Strategie betriebsblind gefangen: Der Mechanismus, steigende Fallzahlen zieht strenge Massnahmen nach sich, die bei ausbleibendem Erfolg noch verschärft werden müssen. Das erzeugt einen enormen Druck in der Bevölkerung.

Nun wird, bevor es überhaupt so weit ist, die Schraube im Hinblick auf den mutierten Virus angezogen. Dabei ist dessen Verhalten noch völlig unklar. In sich selber mag dies eine gewisse Logik haben, es erschüttert mich aber, wie unkritisch diese Strategie trotz der wenig überzeugenden Bilanz hingenommen wird. Was auch dazu führen müsste, dass Spitäler allenfalls mehr Erkrankte aufnehmen können. Sind unsere Spitäler mittlerweile ausreichend dafür gerüstet? Nein, eher nicht. Ich bin enttäuscht, dass nicht mehr innovative Ideen kommen, um die Engpässe in den Spitälern zu erweitern, ihre Kapazität mittelbis langfristig zu erhöhen. Nach einem Jahr ist es klar, dass uns des Virus auch mit Impfung eine Weile begleiten wird. Wieso nach dieser Zeit noch so wenig zur Erweiterung dieser Engpässe gemacht wird, ist mir schleierhaft. Wie interpretieren Sie die Corona- Zahlen? Sind sie ein Abbild der Realität oder ist es schlicht unmöglich, ein reales Bild zu zeigen? Die Hospitalisierungen und Zahlen der Todesopfer sind relativ zuverlässige Hinweise für den Verlauf der Pandemie (ohne dabei auf die Diskussion einzugehen, ob jemand mit oder an Covid- 19 gestorben ist). Die nackten Fallzahlen sind problematischer zu beurteilen, da sie von der Testbereitschaft und Verfügbarkeit sowie der Teststrategie abhängen und wenig bis nichts über den Krankheitswert aussagen. Das Schwierigste ist für mich aber die Tatsache, dass das Alarmistische ganz stark auf den Lageberichten der Spitalfront basieren. Informationen, zu denen wir Aussenstehende keinen direkten Zugang haben, womit eine objektive Meinungsbildung kaum möglich ist. Opfert die Schweiz ihre Wirtschaft und damit bald auch ihren Wohlstand? Wie könnte man die Wirtschaft schützen, es anders machen? Nicht die Wirtschaft gilt es zu schützen, sondern die Menschen als Teil eines biopsycho- ökonomischen Systems. Dabei ist die Wirtschaft einer der Pfeiler, der uns auch soziale Errungenschaften ermöglicht, die mir als linkem Politiker wichtig sind. Die Kollateralschäden, welche die jetzigen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie auf menschlicher und wirtschaftlicher Ebene schon angerichtet haben und in den nächsten Jahren anrichten werden, sind enorm.

Ich bin der festen Überzeugung, dass das Geld zum Auffangen der unmittelbaren Folgen der Massnahmen mit einer innovativeren, mutigeren Strategie besser investiert werden könnte. Ich denke dabei an die verstärkte Unterstützung der Spitäler und Altersheime sowie den wirklich gezielten Schutz von Hochrisikopatienten. Etwa in der Umschulung von Pflegepersonal in kurzen IPS-Modulen, in der flexibleren Zulassung von zusätzlichen IPS-Plätzen und Covid-Stationen sowie andere Möglichkeiten für eine gute Betreuung derer, die es nötig haben. Damit die anderen wieder leben können. Covid wird uns noch lange begleiten und wir müssen leider lernen, mit diesem Erreger zu leben.

Aktuell sind die Impfungen angelaufen. Was ist in diesem Impfstoff drin und wie wirkt er? Ich bin diesbezüglich wirklich kein Fachmann und meine Erklärungsversuche wären wohl kaum erhellend. Sicher hervorzuheben ist die Tatsache, dass erstmals Impfstoffe mittels mRNA zugelassen werden. Eine Technologie, die schon lange in den Startblöcken zu sein scheint, aber erst in diesem Zusammenhang zugelassen wurde. Dies ist sicher ein Grund für eine recht breite Skepsis, die ich verstehen kann.

Ich schliesse gar nicht aus, dass durch den aktuellen Druck, der die Zulassung sicher mit beeinflusst hat, ein grosser Fortschritt in der Impftechnologie umgesetzt werden könnte. Dies wird aber erst im weiteren Verlauf definitiv beurteilt werden können. Tragen Sie das Impfen und die Schweizerische Impfstrategie mit? Ich bin Schulmediziner und absolut kein Impfgegner. Die bewährten Impfungen haben enorm viel für unsere Gesundheit im individuellen wie im kollektiven Sinn beigetragen. Auch die jetzige Impfung hat das Potenzial – wenn sie das hält, was man sich davon verspricht – uns in der Covid-Krise weiterzuhelfen. Allerdings werden die Verfügbarkeit, die Impfbereitschaft und vor allem die noch zu bestätigende Effektivität diese Frage definitiv beantworten können. Und das kann eine Weile dauern …

Was spricht fürs Impfen?

Die bisherigen Studien, die doch grosse Fallzahlen aufweisen, sowie die kurzfristige Verträglichkeit der bisher Geimpften lässt hoffen, dass die Impfung eine mögliche Waffe gegen das Virus sein kann. Sicher ist es absolut sinnvoll, zunächst die Hochrisikopatienten zu impfen. Aufgrund der sonst mehrheitlich milderen Verläufe ist eine Impfung für die anderen aus individueller Sicht zurzeit weniger zwingend. Bei entsprechender Verfügbarkeit und positiven Resultaten wird im Verlauf die Impfung aus epidemiologischer Indikation sicher ein Thema sein.

Was spricht dagegen?

Aus meiner Sicht sind es die fehlenden Erfahrungen, was bei einem neu aufgetretenen Virus und dessen Impfstoff ja auch nicht verwunderlich ist. Die Erfahrung über den natürlichen Immunitätsverlauf, über den mittel- bis langfristigen Impfschutz, über das mögliche Mutationsverhalten und dessen Konsequenzen auf die Impfantwort. Dies soll nicht heissen, dass aktuell nicht geimpft werden soll, aber ich denke, dass eine gesunde Skepsis verständlich ist. Begrüssen Sie eine Impfpflicht, um auf Reisen zu gehen? Prinzipiell nein. Dies scheint mir zum aktuellen Zeitpunkt nicht das vordringlichste Problem zu sein. Es zeigt aber, dass jeder – in diesem Fall die Fluggesellschaften oder aber die Regierungen der Zielländer – sich nichts zuschulden kommen lassen möchte. Ob diese Massnahmen dann wirklich entscheidend zur Verhinderung einer Ausbreitung beitragen, wage ich zu bezweifeln. Aber es sind einfach zu verordnende und zu kontrollierende Massnahmen auf Kosten der persönlichen Entscheidungsfreiheit. Man kann natürlich argumentieren, dass Reisen kein Menschenrecht ist, was absolut stimmt, allerdings ist das Aufzwingen einer so fraglichen Massnahme auch keine brauchbare Lösung.

Sprechen wir auch vom Testen. Wie könnte dieses Instrument gezielter eingesetzt werden? Ich habe tatsächlich grosse Zweifel an flächendeckenden Teststrategien. Gezieltes Testen erachte ich zum Beispiel in Altersheimen für sinnvoll, wo bei entsprechendem Verdacht mit dem Schnelltest rasch eine Beurteilung der Lage im Heim möglich ist. Daraus können gezieltere Schutzmassnahmen abgeleitet werden, als wiederkehrende Schliessungen und sonstige Freiheitseinschränkungen.

Wie gelingt ein einigermassen entspannter Umgang mit Corona?

Die Strategie mit massiv einschränkenden Massnahmen hat seinen Ursprung im überheblichen Irrglauben, dass wir die Natur beliebig kontrollieren können. Eine ähnliche Vorstellung haben wir von der modernen Medizin, die fast alles heilen soll. Hinzu kommt, dass wir den Umgang mit dem Tod bis zu einem gewissen Grad gesellschaftlich verlernt haben. Diese Fehlentwicklungen müssen wir angehen, um diese und vor allem auch weitere noch kommende Epidemien besser akzeptieren und somit auch ertragen zu können. Wie unschwer zu erahnen ist, wird auch das einige Zeit in Anspruch nehmen …

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Der Mediziner Antoine Chaix ist gegen jede Corona-Alarmitis: «Covid wird uns noch lange begleiten und wir müssen leider lernen, mit diesem Erreger zu leben.» Foto: zvg

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