Veröffentlicht am

«Nicht nur in Einsiedeln war ‹Emanze› ein Schimpfwort»

«Nicht nur in Einsiedeln war ‹Emanze› ein Schimpfwort» «Nicht nur in Einsiedeln war ‹Emanze› ein Schimpfwort»

Das Frauenstimmrecht feiert heuer das 50-Jahr-, das Frauennetz Kanton Schwyz sein 20-Jahr-Jubiläum. Dessen Präsidentin Mona Birchler schildert, in welchen Bereichen es heute noch in Sachen Gleichstellung von Frau und Mann hapert.

MAGNUS LEIBUNDGUT

Welche Erinnerungen haben Sie an den 7. Februar 1971?

Gar keine. Die Einführung des Frauenstimmrechts war kein Thema für mich. Ich war damals 16 Jahre alt und noch nicht stimmberechtigt. Meine Interessen galten vielem, nur nicht der Politik. Ich war in jener Zeit in der Töchterschule St. Agnes in Luzern, unglücklich in einem strengen Regime von Klosterfrauen. Meine kleine Rebellion war das Aufhängen eines Plakates von Jimmy Hendrix in Lebensgrösse, um die Klosterfrauen zu ärgern. Leider war diese wegweisende Abstimmung im Unterricht kein Thema. Ich wurde erst viel später politisiert: im Jahr 2015, als ich Präsidentin des Frauennetz Kanton Schwyz wurde. Hat die damalige Abstimmung die Emanzipation der Frauen beflügelt?

Nein, das denke ich nicht. Emanzipation hat viel früher eingesetzt: Schon im Jahr 1860 haben sich mutige Frauen für die Gleichberechtigung engagiert. In der Bundesverfassung von 1848 waren die Bürgerrechte geregelt. In der Interpretation der Texte war man jedoch der Ansicht, dass es zu weit gehe, die Frauen mit einzubeziehen. Würden Sie sich selber als emanzipiert betrachten? Emanzipation bedeutet Befreiung, Ablösung, Loslösung aus einem Zustand der Abhängigkeit. Emanzipiert zu sein bedeutet selbstständig und gleichgestellt zu sein. Ich stelle mich diesem Prozess immer wieder von Neuem. War es im Klosterdorf damals verpönt, als Emanze zu gelten? Nicht nur in Einsiedeln war «Emanze» ein Schimpfwort. Bereits in den 20er- und 30er-Jahren wurden für Frauenrechte kämpfende Frauen gerne als blutsaugende Vampire dargestellt, die den Untergang der Familie bewirkten. Bis weit in die 80er- und 90er-Jahre hinein galt zum Beispiel Alice Schwarzer, Gründerin und Herausgeberin der Frauenzeitschrift Emma und eine der bekanntesten Feministinnen Europas, als eigentliches Feindbild. Hatten es Frauen, die in die Politik einsteigen wollten, schwer im Klosterdorf?

Einsiedeln war ein Spiegelbild der Stimmung in ländlichen Kantonen und der Normalfall. Es war für Frauen schwer, einen Platz in politischen Behörden zu erobern – und das ist bis heute so. Wieso gibt es auch heutzutage noch kaum Frauen im Kantonsund im Regierungsrat? Bezirksrätinnen kann man in Einsiedeln an einer Hand abzählen. Es hat sich in der Tat erstaunlich wenig geändert. Eine Studie, die das Frauennetz im Jahr 2004 zur Situation im Kanton Schwyz in Auftrag gab, brachte zwei Erkenntnisse zutage: die mangelnde Bildung der Frauen und das Schwyzer Wahlsystem. Beides hat sich in der Zwischenzeit verändert. Frauen sind heute ebenso gut ausgebildet wie Männer. Sie bringen einerseits die Kompetenz für ein politisches Amt mit und überlassen andererseits das Wählen nicht mehr den Männern. Mit der Einführung des doppelten Pukelsheim im Jahr 2015 wurde das Wahlgesetz leicht zugunsten der Frauen geändert. Positive Folgen hätte es für die Frauen auch, wenn die kürzlich lancierte überparteiliche Majorzinitiative vom Stimmvolk angenommen würde. Dass Frauen trotzdem immer noch stark untervertreten sind, erkläre ich mir mit der erschwerten Vereinbarkeit von Familie, Karriere und politischen Ämtern. Hat sich dank den Frauen die Politik in der Schweiz verändert?

Auf jeden Fall. Die Veränderung in der Politik ist gut dokumentiert in Abstimmungen im National- und Ständerat. Frauen stimmen anders ab als Männer: Dies kommt vor allem in sozialen, ökologischen und Gesundheitsfragen zum Ausdruck. Auch im Bundesrat weht ein anderer Wind, seit es dort Frauen gibt. Weshalb nur hat es in der Schweiz so lange gedauert, bis das Frauenstimmrecht eingeführt wurde?

Das ist eine berechtigte Frage. Die historischen und rechtlichen Erkenntnisse sind lückenhaft. Genau aus diesem Grund realisiert das Schweizerische Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law nun eine Studie. Die Autorinnen gehen verschiedenen Fragen nach, zum Beispiel jener, weshalb die meisten europäischen Länder das Frauenstimm- und -wahlrecht lange vor uns eingeführt haben oder was in den einzelnen Kantonen geschah. Interessieren sich junge Leute überhaupt noch für Frauenrechte und die Gleichstellung von Frau und Mann? Ich stelle keinen grossen Unterschied zu früher fest. Erfreulicherweise gibt es zum Beispiel sehr junge, in diesen Themen engagierte Nationalrätinnen und Nationalräte. Spätestens wenn ein Ehepaar Kinder bekommt, erfahren sie die Defizite in der Gleichstellung der Geschlechter.

Haben Sie selber am Frauenstreik im Jahr 2019 teilgenommen?

Oh ja, und es war ein wunderbares Ereignis, an dieser Demonstration so viele engagierte, mutige und tolle Menschen zu treffen. Es war die erste Demo in meinem Leben, an der ich teilgenommen habe (lacht). Wo hapert es in diesen Zeiten in Sachen Gleichstellung von Frau und Mann? Noch immer erhalten viele Frauen einen tieferen Lohn als Männer – für dieselbe Arbeit. Frauen in Teilzeitarbeit haben nach wie vor Nachteile, zum Beispiel in der Altersvorsorge, und sind oft in Niedriglohnsektoren wie Pflege oder Verkauf beschäftigt. Noch immer sind bei uns vor allem Männer in Führungsfunktionen. Frauen leisten derweil viel Freiwilligenarbeit, pflegen Angehörige und machen Hausarbeit: Für alle diese Tätigkeiten bekommen sie meist keinen Lohn. Es fehlt nach wie vor an bezahlbaren, familienergänzenden Betreuungsangeboten – und das bekommen vor allem Frauen zu spüren. Welche Ziele setzt sich das Schwyzer Frauennetz im neuen Jahr? Noch mehr Frauen zusammenzubringen und zu vernetzen. Männer hatten von jeher Netzwerke, um sich zu verbinden und zu stärken. Um Ziele zu erreichen, braucht es solche Netzwerke. Und dann feiern wir – wie das Frauenstimmrecht – heuer ein Jubiläum: Das Frauennetz Kanton Schwyz wird zwanzig Jahre alt. Am 17. April geht in Schindellegi unsere Jubiläums- Generalversammlung mit einem grossen Abendprogramm über die Bühne. Hoffentlich …!

Mona Birchler: «Meine kleine Rebellion war das Aufhängen eines Plakats von Jimmy Hendrix in Lebensgrösse, um die Klosterfrauen zu ärgern.» Foto: zvg

Share
LATEST NEWS