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«Im Zielhang ist es steil, eisig und dunkel»

«Im Zielhang ist es steil, eisig und dunkel» «Im Zielhang ist es steil, eisig und dunkel»

Gespräch mit Urs Kryenbühl nach seinem erneuten grossen Erfolg in Bormio

Mit ein paar Tagen Distanz zu seiner zweiten Fahrt aufs Abfahrts-Podest im Weltcup in Bormio und zu seinen insgesamt sehr erfolgreichen Weltcup- Rennen im Dezember blickt Urs Kryenbühl zurück – und nach vorne.

KONRAD SCHULER

Warum ist dieser 26-jährige Unteriberger eigentlich so schnell in Bormio? Urs Kryenbühl selber weiss auch nicht so genau, was es mit der Stelvio und ihm auf sich hat. «Vielleicht weil ich mich überwinden kann, vielleicht zahlen sich meine vielen Stunden, die ich als Kind auf dem Funpark im Hoch-Ybrig verbracht habe, nun eventuell aus.» Er spricht unter anderem die vielen Sprünge an, die er dort geübt habe.

In Bormio rüttle und schüttle es von oben bis unten, so der Unteriberger. Es gebe auf der ganzen Strecke keine Ruhezeit. Bei jeder Witterung sei die Sicht schlecht, es sei immer dunkel. Vom Start bis ins Ziel brauche es die hundertprozentige Konzentration. Im Ziel sei man fix und fertig, «blau» eben, wie die Fahrer selber das bezeichnen.

«Es gibt auf anderen Abfahrtsstrecken zumindest Partien, wo du dich freust, wo du ein gutes Gefühl hast. In Bormio freut sich wohl kein Fahrer während der Fahrt, sondern jeder ist froh, wenn er im Ziel heil angekommen ist», so Kryenbühl. So gehe es zumindest ihm selber. Er wisse aber auch von anderen Fahrern, dass diese der Piste Stelvio ebenfalls grossen Respekt zollen. Was ist denn so speziell an der Stelvio? «Der Start in Bormio ist sehr steil, die erste Rechtskurve muss man schnell fertigmachen und sich sofort vorbereiten auf den ersten Sprung, «la Rocca». Die Startphase sei ähnlich wie am Hahnenkamm, so Kryenbühl. «Bei diesem Kurvensprung ist es vom Körperschwerpunkt her schwierig, sich zu positionieren. Ich habe probiert, relativ frech draufzugehen », sagt er. Eine weitere Rechtskurve führt in die Hochgeschwindigkeitspassage Canalino Sertorelli. «Wir erreichen dort sehr hohe Tempi, und es hat viele Wellen», analysiert der Unteriberger. Dann folgt eine langgezogene Linkskurve, die in das Flachstück «Fontana Lunga» führe. Jetzt sind die anspruchsvollsten und kurvenreichsten Stellen der Abfahrt fällig, die sogenannten «Hermelin-Kurven» und die «Traverse Carcentina».

«Schwierig ist es vor allem, den Ansatz der Kurve richtig zu treffen, weil es immer unruhig ist. Ganz entscheidend ist es, in der Traverse hoch zu bleiben. Das gelang mir bei der Fahrt wiederum ausgezeichnet», erzählt er. «Man fährt eigentlich auf einem Ski, der Talski muss extrem gut belastet sein», so Kryenbühl zu dieser Schlüsselstelle. Über den kurzen Abschnitt «Ciuk» gehe es dann weiter zum «San-Pietro-Sprung» mit Weiten um die 40 Meter. «Heuer gingen die Sprünge deutlich weniger weit als vor einem Jahr», merkt er an.

Im «San-Pietro-Schuss» werden Geschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometer erreicht. Auch die letzten Abschnitte «Bosco Alto» und «Feleit» bestehen vorwiegend aus schnellen Kurven.

Den Abschluss bilden der Zielsprung und der Zielschuss. «Im Zielhang ist es steil, eisig und dunkel. Man hat müde Beine, zweimal möchte man diesen Abschnitt nicht in diesem Zustand fahren müssen. Es geht darum, die letzten Reserven zu mobilisieren, tief in der Hocke zu bleiben und bis ins Ziel durchzubeissen », verrät Kryenbühl. Der Zielsprung sei heuer ziemlich weit gegangen. «Es ist einfach ein Kampf bis ins Ziel», so der erfolgreiche Athlet auf dieser Strecke.

Was sind seine nächsten Ziele?

«Das Wichtigste ist für mich, für einmal ohne Verletzung durch einen ganzen Winter zu kommen. Dann will ich in der Disziplinen- Gesamtwertung im Weltcup in der Abfahrt unter die Top Ten kommen und wenn irgendwie möglich mich auch im Super-G in den Top 30 der Welt etablieren. Ein weiteres Ziel ist die Teilnahme an den Skiweltmeisterschaften vom 9. bis 21. Februar in Cortina d’Ampezzo. Auch einen ersten Weltcupsieg würde ich gerne nehmen.» In der Gesamtwertung der Abfahrt belegt der Unteriberger aktuell Rang vier mit 127 Punkten und ist damit bester Schweizer, im Super-G belegt er Rang zwölf mit 67 Punkten. «Ich bin im Moment also in beiden Disziplinen voll auf Kurs. Daumen hoch, ich war nahe am Optimum», so sein Fazit. «Dabei hatte ich insofern Glück, dass ich im Super-G in Val d’Isère als achter und letzter Schweizer im Aufgebot war», relativiert der auch im Erfolg bescheiden bleibende Skirennfahrer.

Als er nach der Bormio-Abfahrt auf seine Ziele angesprochen wurde, wusste er einen Moment lang nicht, was er antworten soll. «Ich habe versucht, mein bestes Skifahren zu zeigen. Wenn man schnell ist, ist es umso besser, desto mehr freut man sich. Die Ziele, die ich mir für diesen Winter gesetzt habe, habe ich eigentlich kompromisslos angestrebt. Ich kenne gerade meine Ziele auch nicht mehr so genau. Ich muss mir wohl, so glaube ich, neue Ziele setzen.» Nach Bormio sei er ausgelaugt, psychisch und physisch ausgepumpt, kaputt und müde gewesen. Er habe nun wirklich drei bis vier Tage der Erholung, der Ruhe und der Regeneration gebraucht. Nun gehe es wieder in den Kraftkeller. Diese Woche sei ein Training mit dem Team geplant. «Es gilt wohl, ein wenig Riesenslalom zu trainieren oder so, sich einfach ein bisschen zu bewegen, denn die drei letzten Wochen sind extrem anstrengend gewesen.» Was sind ihm die Erfolge wert?

Auch wenn das eventuell nur eine Momentaufnahme nach je drei Rennen sein sollte, zeigt sie auf, wie unglaublich gut Urs Kryenbühl im Dezember 2020 Ski gefahren ist. Was ihm die Erfolge wert sind, lässt sich auch daran sehen, dass die beiden Pokale aus Bormio als wertvolle Geschenke unter dem Weihnachtsbaum ihren Platz fanden.

Kryenbühl weiss aber mittlerweile zu gut, wie nahe Erfolg und Misserfolg sind, wie schnell es sich wieder ändern kann. «Ich will weiterhin gute Resultate erreichen und gut Skifahren, immer im Bewusstsein, dass solche Ergebnisse nicht selbstverständlich sind.»

Wie Geschenke unterm Christbaum: Urs Kryenbühl mit seinen beiden Bormio-Pokalen.

Foto: Konrad Schuler

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