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«Der Mensch sollte in unserem Beruf im Mittelpunkt stehen»

«Der Mensch sollte in unserem  Beruf im Mittelpunkt stehen» «Der Mensch sollte in unserem  Beruf im Mittelpunkt stehen»

Einst war er Referent zu Pensionierungsvorbereitung – jetzt ist er selber Pensionär: Franz Dietsche blickt auf Höhen und Tiefen während seiner jahrzehntelanger Arbeit als Sozialarbeiter und Leiter der Pro Senectute in Ausserschwyz zurück. Vor einer Woche war sein letzter Arbeitstag.

NICOLE DÜRST

Kühler Herbstwind weht draussen, drinnen im Büro des Leiters von Pro Senectute in Lachen duftet ein warmer Kaffee. Die Regale, der Schreibtisch, das Fenstersims – praktisch leer. Einzig auf dem Tisch steht eine grosse Kiste mit Geschenken und Karten. Eine Weinflasche daneben. Eine Weinflasche unter dem Tisch. Franz Dietsche hebt sie hoch und stellt sie neben die andere. Ein besonderer Arbeitstag für ihn, nach 23 Jahren sein letzter. Seine Augen verraten, er hat viel erlebt und gesehen. Was geht Ihnen gerade durch den Kopf? So leer war mein Büro noch nie. In all den Ordnern waren Unterlagen von Projekten. 23 Jahre … Ich muss heute noch einiges räumen und die Schlüssel abgeben.

Wie fühlt sich das an?

Irgendwie befreiend und zugleich wehmütig. Es ist eine grosse Ungewissheit da, was kommen wird. Ich habe keine Ahnung, welche neuen Erfahrungen ich machen werde.

Was wird sich ändern?

Gerade Männer definieren sich stark über berufliche Erfolge. Ich bin jetzt aber nicht mehr Berufsmann, sondern Franz Dietsche. Kein Sozialarbeiter mehr. Meine berufliche Identifikation, die Höhen und Tiefen bei der Arbeit … weg. Bestimmt wird der Sonntagabend einiges entspannter sein. Ich brauche mich dann nicht mehr zu fragen: «Was läuft diese Woche? Wo muss ich hin? Was ist los? Wie muss ich mich vorbereiten? » Und ich freue mich darauf. Haben Sie denn etwas geplant?

Das ist toll! Ich habe einfach mal nichts geplant. Na gut, zwei drei Termine stehen noch an. Aber danach einfach gar nichts mehr. Das eine oder andere Projekt im Bildungsbereich kann ich jetzt angehen.

Erzählen Sie.

Zum einen werde ich vermehrt Tai-Chi-Kurse anbieten, auch für jüngere Personen. Instruktor bin ich schon länger. Zum anderen habe ich kürzlich eine Weiterbildung als MBSR-Lehrer absolviert. Ich werde zum Thema Achtsamkeit verschiedene Kurse anbieten. Stressbewältigung durch Achtsamkeit ist in unserer Region noch nicht so bekannt. Beginnen Sie mit der Aufklärung über MBSR.

Durch Achtsamkeit soll ein bewusster Umgang mit Stress im Alltag sowie mit schwierigen Lebenssituationen geschaffen werden. Der Lockdown verlangsamte Alltägliches – das gesellschaftliche Leben wurde schlagartig ruhiger. Für viele eine wohltuende Erfahrung, die jetzt in einem MBSR-Kurs gefestigt werden könnte. Ebenso wurde vielen bewusst, wie wichtig das Soziale in unserer Gesellschaft ist. Hat sich das auch in der Arbeit der Pro Senectute gezeigt? Die Themen blieben tatsächlich über all die Jahre gleich. Aber was sich stark geändert hat, ist die Bedeutung der sozialen Arbeit. Das erkennt man jetzt gut. Was berichten die Menschen, was ihnen zurzeit am meisten fehlt? Die sozialen Kontakte. Dadurch wird deutlich, wie wichtig diese sind.

Woran könnte das liegen?

Die Problematik muss an den Wurzeln gepackt werden. Man kann noch so viel Geld oder Pillen abgeben. Doch wenn die sozialen Konflikte nicht gelöst werden, dann bleibt die Ursache bestehen. Das ist nur «Pflästerli- Politik». Man muss die gesellschaftlichen Probleme zusammen angehen. Durch die Corona- Krise erkennen wir, wie vernetzt die Generationen sind.

Inwiefern?

Wie viele Senioren setzen sich für die Kinderbetreuung von ihren Enkeln ein? Das ist eine gewaltige Anzahl von Stunden. Oder Senioren, die in der Schule mithelfen oder sich in Vereinen und so weiter engagieren? Senioren machen häufig Freiwilligenarbeit und geben der Gesellschaft etwas zurück. Die Finanzierung der AHV-Leistungen lässt sich dadurch aber nicht langfristig sichern. Ich denke, man sollte die Situation ganzheitlich betrachten. Ich bin der Meinung, dass die Senioren solidarisch denken und aktiv in der Gesellschaft ihren Beitrag leisten. Der Generationenvertrag ist für alle wichtig, auch zukünftig. Es ist wichtig, dass Jung und Alt gleich behandelt werden. Ich konnte in meiner Arbeit keinen «Generationengraben » feststellen. Wenn man genau hinsieht, herrscht eine grosse, gegenseitige Solidarität. Pro Senectute engagiert sich für die Verbindung der Generationen. Der Austausch zwischen Alt und Jung ist ganz wichtig. Ich durfte einige generationsübergreifende Projekte begleiten. Das eine ermöglicht, dass Lehrpersonen von Senioren im Unterricht unterstützt werden. Das andere betrifft einen Literaturpreis «Prix Chronos », bei dem Jung und Alt gemeinsam über Bücher diskutieren und das beste mit einem Preis auszeichnen. Welche Erfolge verspricht man sich dadurch? Es ist eine Win-win-Situation für die Generationen: Senioren blühen auf, wenn sie mit jungen Menschen zusammen sind. Und junge Menschen oder Kinder schätzen es sehr, wenn Senioren ihnen «ihre Zeit schenken» und sie neue Inputs erhalten. Sie wollen Neues lernen. Senioren teilen gerne ihre Erfahrung. Vor Pro Senectute arbeiteten Sie in einem Kinderheim. Warum diese Kehrtwende? Meine Frau und ich haben zusammen elf Jahre lang das Kinderheim in Au geleitet. Unsere drei Töchter sind sozusagen mit den Heimkindern aufgewachsen. Aber wir wussten, dass irgendwann ein Wechsel kommen wird. Das hing mit der Familienplanung zusammen. Wieso kam der Wechsel nach elf Jahren gelegen? Die Kinder kamen etwa im Kindergartenalter in unser Heim und blieben teils bis zur Lehre. So haben wir als Familie eine Generation innert dieser elf Jahren begleitet. Das war dann der richtige Zeitpunkt, um uns ganz vom Heim zu lösen und etwas Neues auszuprobieren. So zügelten wir nach Lachen. Ein Neuanfang für alle. Wir haben auch hier als Familie mitgewirkt.

Beispielsweise bei «Offene Weihnachten»?

Genau. Das ist ein Projekt, in dem die ganze Familie involviert war. Meine Kinder mit ihren Partnern haben geholfen zu servieren, und meine Frau hat gekocht. Wir haben mit einer weiteren Familie vor zwölf Jahren gestartet. Auch andere Personen haben freiwillig mitgeholfen. In diesem Jahr wäre es das letzte Mal für uns gewesen. Aber wir mussten es coronabedingt absagen, bevor wir die Planung hochgefahren haben. Sind Sie jetzt eigentlich alt?

Vielleicht älter. Oder eher reifer. Aber wie der Volksmund so schön sagt: «Man ist so alt, wie man sich fühlt.» Ich hatte im letzten Jahr einen kleinen Unfall. Mir wurde bewusst, wie schnell alles vorbei sein könnte. Sprechen Sie mit Blick auf Ihre anstehenden Projekte von Ruhestand?

Die Verantwortung als Leiter und der berufliche Druck sind weg. Für mich bedeutet Ruhestand, dass ich nur noch darf und nicht mehr muss. Ich weiss zwar noch nicht, wie sich das anfühlen wird. Alles, was ich ab jetzt mache, ist nur noch ein Dürfen und kein Müssen. Sind damit auch Befürchtungen oder Ängste verbunden? Eigentlich nicht. Natürlich wird es nicht immer nur schön sein, aber so ist das Leben. Ich konnte mich jahrelang beruflich mit Fragen von Senioren befassen. Ich durfte auch Pensionierungsvorbereitungskurse halten und habe viele Senioren begleiten. Deshalb kenne ich die Themen, die auftauchen können. Was ich aber in meinen Referaten erzählt habe, werde ich nun selber erleben, ob es sich nun bestätigen lässt oder auch nicht. Diese andere Perspektive als Pensionär wird interessant sein. Als 40-Jähriger traten Sie die Stelle an. Wie nahmen Sie Entwicklung über die Jahre wahr? Überspitzt gesagt gab es 1997 in der ambulanten Altersarbeit im Vergleich zu heute wenig: Spitex für die Pflege und Pro Senectute für die Beratung. Das wars. Hingegen erhielt man für die Arbeit mit Jugendlichen schneller Gelder. Wenn ich von diesem Wechsel erzählte,wurde ich im Bekanntenkreis gefragt: «Was machst du denn?» Doch kaum habe ich hier begonnen, rückte das Thema Alter in den Mittelpunkt. Es fand ein Mentalitätswechsel statt. Ich erkenne jedoch auch eine kritische Entwicklung.

Worin?

Durch die Digitalisierung wurde vieles einfacher, zugleich aber bürokratischer. Der administrative Aufwand ist sehr stark angestiegen. Der Mensch sollte in unserem Beruf im Mittelpunkt stehen und nicht die Verwaltung. Wenn ein Sozialarbeiter mehr Zeit für die Dokumentation als für die Beratung aufwendet, ist das ein Missverhältnis von Aufwand und Ertrag.

Wie haben Sie mitgewirkt?

Ich durfte viele Bereiche unterstützen und aufbauen. Wir haben praktisch den ganzen Servicebereich ausgebaut. Das war fantastisch. Da durfte ich kreativ sein und konnte aus dem Vollen schöpfen. Eine super Zeit! Am Schluss betreute ich den Treuhanddienst. Es kamen hier der Steuererklärungs-, Fahr- und Besuchsdienst dazu. Auch die Umzugshilfe, um den Wechsel in das Altersheim für betagte Senioren zu erleichtern. Auch das Kreativzentrum konnte aufgebaut werden. Es gibt nun für alle Interessen Bildungsangebote. Auch konnte ich verschiedene Altersleitbilder für Gemeinden konzipieren. Das letzte war dieses in Tuggen. Franz Dietsche öffnet eine Kiste, eine der letzten, die im Regal noch übriggeblieben ist. Daraus nimmt er ein Heft, das Tuggner Altersleitbild. Er blättert durch die Seiten und ist zufrieden mit dem, was er sieht. Mit sich. Das war sein letztes Projekt, sein letztes Konzept. Es ist abgeschlossen. Das Konzept in die Kiste, zurück ins Regal. Dietsche geht zum Tisch, nimmt eine Weinflasche in die Hand, liest den Abschiedsspruch. Zögerlich legt er sie in die grosse Kiste auf dem Tisch zu den anderen Geschenken. Vorsichtig die zweite Flasche, doch dieses Mal entschlossen. Er hebt die Kiste, öffnet die Tür und verlässt den Raum. Kühler Herbstwind. Das Büro des Leiters von Pro Senectute in Lachen – das bleibt leer, ohne zu wissen, ob und wann wieder ein Kaffee in diesem Raum duftet.

Zur Person

ml. Franz Dietsche ist am 20. November 1957 geboren und lebt in Lachen. Er ist pensionierter Sozialarbeiter. Zu seinen Hobbys gehören Tai Chi, Meditation, Natur und Lesen. Franz Dietsche ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

«Mister Pro Senectute» Franz Dietsche startet nach 23 Jahren in einen neuen Lebensabschnitt.

Foto: Magnus Leibundgut

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