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«Eine selbstsichere Person entwickelt selten eine Phobie»

«Eine selbstsichere Person entwickelt selten eine Phobie» «Eine selbstsichere Person entwickelt selten eine Phobie»

Der Höfner Arzt Martin Leitinger führt die Triaplus Ambulante Psychiatrie und Psychotherapie Schwyz in Einsiedeln. Ein Gespräch über Häufigkeit, Ursache und Therapie von Ängsten und Phobien.

ANOUK ARBENZ

Die meisten Menschen haben Ängste. Ich kriege beispielsweise Herzklopfen, wenn mich jemand anruft. Ab wann ist eine Angst krankhaft? Dann, wenn der Alltag dadurch beeinträchtigt ist. Das kann die Berufstätigkeit, die Beziehung oder die Freizeitgestaltung betreffen. Ist das immer klar erkennbar?

Zum grössten Teil bemerken es die Betroffenen selbst. Wir fragen bei unseren Patienten auch immer nach, wie sehr und seit wann die Angst den Alltag schwierig macht. Das ist ganz unterschiedlich. Wie therapiert man eine Angst?

Am Anfang geht es um den Informationsaustausch und die Psychoedukation. Das heisst, man klärt den Patienten darüber auf, dass er mit seinem Leiden nicht alleine ist und dass es Behandlungsmöglichkeiten gibt. Die meisten Betroffenen verspüren alleine dadurch schon eine Entlastung. Bei einzelnen Phobien hat sich zudem die Verhaltenstherapie etabliert. Dabei geht es darum, besser zu erkennen, was es genau ist, das mich stresst und ängstigt, und dann zu versuchen, mittels Training die Angst gezielt zu bekämpfen. Die Patienten müssen sich also ihren Ängsten stellen.

Gehen Sie manchmal auch nach draussen, um zu trainieren? Ja, das machen wir hier in unserem Dienst aber relativ selten. Spezialisierte Therapeuten und Therapeutinnen machen solche Trainings häufiger. Helfen auch Gruppentherapien?

Ja. Eine Zeit lang hatten wir eine Angstgruppe von sechs bis acht Personen – alle mit ähnlichen Ängsten. Dabei geht es darum, zu informieren, zu üben und auch Rollenspiele zu machen. Das tut den Betroffenen sehr gut, weil sie sehen, dass sie nicht die Einzigen sind. Das Problem nur: Das sind oftmals Menschen, die sich nicht in eine Gruppe getrauen, wo sie niemanden kennen. Daher ist es gar nicht so einfach, so eine Gruppe zu bilden. Hilfreich ist auch unser Angebot GSK (Gruppentraining soziale Kompetenz), das ängstlich- vermeidenden oder sozialphobischen Personen hilft, in der Gruppe ihre Ängste zu konfrontieren. Hier arbeiten wir mit Videoaufzeichnungen, die wir anschliessend mit den Betroffenen analysieren. Wie viele Patienten kommen zu Ihnen wegen Ängsten oder Phobien?

Relativ wenige Patienten kommen mit einer isolierten Phobie. Wenn wir Patienten haben mit Ängsten, dann haben diese meist zwei, drei Ängste oder die Angst ist Teil eines anderen Problems. Als Basis- und Grundversorger sind wird für ganz viele Fragen zuständig, decken also das ganze Spektrum psychischer Erkrankungen ab. Welche Phobie ist die Häufigste?

Die Agoraphobie mit der Angst vor öffentlichen Plätzen und Menschenansammlungen. Dazu gehört auch die Angst, alleine zu reisen oder weit weg von zu Hause zu sein. Dann ist auch die Soziale Phobie recht häufig, mit dem Problem, in einer Gruppe vor anderen Leuten sprechen zu müssen. Anders als Personen mit Panikattacken wissen Personen mit Phobien ganz genau, was eine panische Reaktion auslöst, weshalb sie diese Situation oder dieses Objekt meiden. Wenn man im Internet zu Phobien recherchiert, gibt es ja die unmöglichsten Sachen: Angst vor Knöpfen, vor Enten, vor Kürbissen et cetera. Nehmen Sie das ernst, wenn jemand kommt und sagt, «Ich habe Angst vor Ohrenstäbchen?» Ja, das würde ich schon ernst nehmen, weil vielleicht auch eine andere psychische Problematik dahintersteckt. Wie man so eine einzelne spezielle Phobie therapieren kann, wüsste ich nicht. Solche Patienten kommen allerdings auch nicht zu uns. Vielleicht informieren sich die Betroffenen auch im Internet, wie sie ihre Angst ablegen können. Kann man eine Phobie also gut alleine therapieren? Ja, grundsätzlich glaube ich schon, dass man sich mit vielen Phobien irgendwie arrangieren kann. Der springende Punkt ist immer: Wie sehr beeinträchtigt es meine Lebensplanung? Es gibt aber auch viele Leute, die sich ihrer Angst gar nicht so richtig bewusst sind, die zum Beispiel Flugangst haben und dann aber, statt die Angst zu konfrontieren, sagen: «Mir liegt nichts an Fernreisen, das mache ich nicht.» Und das ist ja kein Problem …

Meistens nicht. Erst dann, wenn die Person selber gerne fliegen würde, es dann aber nicht kann. Oder wenn der Partner darauf besteht. Dann muss man die Angst konfrontieren.

Aktuell ist Maskentragen an der Tagesordnung: Haben gewisse Leute ein Problem damit und wenn ja, wie kann man dieses lösen?

Wir hatten bis jetzt keinen Fall, bei dem das Maskentragen ein phobisches Problem war. Für einige Leute ist es aber wohl ein beklemmendes Gefühl, da können Entspannungs- und Atemübungen helfen. Ich habe den Eindruck, dass die Corona-Krise eher die Patienten durcheinanderbringt, die unter einer generalisierten Angststörung leiden. Oder solche, die psychotische Ängste haben und in so einer Situation, in der alles unsicher ist, das Gefühl haben, «überschwemmt» zu werden. Hinzu kommt, dass die Masken, die überall zu sehen sind, die Angst verstärken. Das haben wir schon erlebt die letzten Wochen.

Gibt es heutzutage mehr Geängstigte und Leute, die unter Phobien leiden, als – sagen wir – vor 20, 30 Jahren? Nein, das glaube ich nicht, aber wissen kann ich das nicht. Dass es heute mehr Fälle gibt, könnte gut daran liegen, dass man heute aktiver in die Beratung geht und offener mit dem Thema umgeht. Es könnte aber auch damit zu tun haben, dass die Welt in den letzten Jahren unsicherer geworden ist. Aber die Welt ist doch eigentlich sicherer geworden – früher hatte man Kriege, Wirtschaftskrisen …

Ja, das ist richtig. Wenn überhaupt, kann man diese These nur in Regionen untersuchen, die über längere Zeit relativ stabil geblieben sind. Wie entsteht eine Phobie? Kommt sie von einem Trauma aus der Kindheit oder kann sie auch einfach so auftauchen? Dass eine Phobie oder Angst auf einem Trauma beruht, höre und erlebe ich oft. Tierphobien jedoch haben oftmals mit der Erziehung zu tun. Wenn die Eltern Angst vor einem Tier haben, dann nimmt man das mit. Also kann man schon in der Erziehung verhindern, dass sich eine Phobie entwickelt? Es ist auf jeden Fall gut, wenn man sich bemüht, seine Angst nicht Eins zu Eins den Kindern weiterzugeben. Ich mag zum Beispiel Spinnen überhaupt nicht – gerate nicht in Panik, finde sie einfach eklig –, meine Frau mag Schlangen gar nicht. Zum Glück hat sie aber kein Problem mit Spinnen und ich kein Problem mit Schlangen, so können wir unsere Kinder trotzdem an die Tiere heranführen und zeigen, dass sie keine Angst zu haben brauchen.

Wie kommt es, dass so viele Menschen wegen eines winzigen Wesens sogar ihre Wohnung nicht mehr betreten wollen?

Eine Theorie ist: Je weiter weg ein Tier vom menschlichen Erscheinungsbild ist, desto eher hat man Mühe damit. Bei mir war es aber auch so, dass schon meine Mutter nicht gerade begeistert war von Spinnen. Zudem erinnere ich mich an eine Szene im Kindergarten, als wir alle vor der Spinne wegrannten. Auch das Gruppenlernen im Kindesalter kann also einen Einfluss haben.

Also ist auch die Schulzeit prägend?

Bei der sozialen Phobie auf jeden Fall. Wenn jemand als Kind Schwierigkeiten hatte und gemobbt wurde, vielleicht ein Aussenseiter war, dann ist diese Person wahrscheinlich auch als Erwachsene unsicher und entwickelt eher eine ängstliche Persönlichkeit.

Das heisst, unsichere Persönlichkeiten tendieren eher dazu, eine Phobie zu entwickeln? Ja, eine selbstsichere Person entwickelt selten eine Phobie. Das sind eigentlich immer Menschen, die es nicht ganz einfach hatten im Leben. Deshalb ist im Gespräch mit dem Patienten die Biografie sehr wichtig. Was können Familie und Freunde machen, um Betroffenen zu helfen? Ernst nehmen, gemeinsam Nachschauen im Internet, dazu motivieren, mit einer Fachperson darüber zu sprechen, und helfen, die Scham, die man möglicherweise empfindet, zu überwinden. Auch die Mithilfe während der Beratungszeit ist sehr wichtig.

Martin Leitinger, leitender Arzt und Leiter Triaplus APP Schwyz: «In den letzten Wochen haben wir gemerkt, dass Leute, die unter psychotischen Ängsten leiden, durch die Corona-Krise noch mehr verunsichert sind.» Foto: Anouk Arbenz

«Tierphobien haben oftmals mit der Erziehung zu tun.» «Je weiter weg ein Tier vom menschlichen Erscheinungsbild ist, desto eher hat man Mühe damit.»

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