Die weissen Tauben fliegen f fort
Das Geheimnis der Friedenstauben hinter dem Kloster
Seit letztem November sind auf der Südseite des Klosters ein paar Dutzend weisse Tauben untergebracht. Sie wären bei den Welttheater-Aufführungen zum Einsatz gekommen, wenn es spätestens 2021 hätte durchgeführt werden können. Die Verschiebung auf 2024 bedeutet für die Tauben den baldigen Abschied von Einsiedeln.
GINA GRABER
Eine Schar weisser Tauben sitzt auf dem Dach und dem Einlassgitter einer zum Taubenschlag ausgebauten Baubaracke. Die Vögel tänzeln hin und her, suchen flatternd den besten Platz und beäugen mit ihren honigbraunen Augen von oben herab das Geschehen rundherum. Sie sind von ihrem zweistündigen Freiflug zurückgekehrt und warten nun auf ihr Futter, das ihnen nach ihrem Ausflug immer zur selben Zeit dargereicht wird.
«Hoi, mini Hübsche», begrüsst sie Claudia Capecchi freudig. Die Produktionsleiterin der Welttheatergesellschaft Einsiedeln ist eine von dreizehn Freiwilligen, die sich um die Betreuung der Tauben kümmert. Die zutraulichen Vögel flattern sofort in die Baracke hinein zu den Futtertrögen und fangen an zu picken.
Friedenstauben fürs Welttheater Die Mitglieder des Taubenteams kümmern sich im Turnus gemeinschaftlich um die Bedürfnisse der Tauben, füllen die Tröge, wechseln Trink- und Badewasser und putzen einmal pro Woche den Schlag. Claudia Capecchi, die heute im Einsatz ist, weiss, in welchem Moment der Aufführung die Tauben aufgeflogen wären. Aber sie verrät nichts. Passanten fragten manchmal, wem die weissen Vögel gehörten und weshalb sie hier seien. Fast alle gaben sich mit der vagen Antwort «fürs Welttheater» zufrieden und fragten nicht weiter nach. Vielleicht weil «Friedenstauben» etwas Reines, Mystisches an sich haben, weil es genügt, dass sie einfach da sind, dass man ihnen nachschauen und -sinnen kann, wenn sie sich in den Himmel erheben und davonfliegen.
Denn kaum ein Tier ist so symbolträchtig wie die Taube. Sie steht für Frieden, Sehnsucht, Liebe, Hoffnung und für den Heiligen Geist. Sie wurde vielfach besungen, von Picasso gezeichnet und kommt in den Märchen der Brüder Grimm als Helferin der Benachteiligten vor.
Idee des Regisseurs Die Idee, am Welttheater Tauben einzusetzen, hatte Regisseur Livio Andreina im letzten Herbst. Auf der Suche nach weissen Tauben wurde man beim Hochzeitstauben- Anbieter Sretko Katanic in Tuggen fündig, der das Taubenteam tatkräftig unterstützte und fachlich begleitete. Das Kloster Einsiedeln war sofort bereit, die Tauben hinter dem Marstall zu beherbergen, und Mitglieder aus dem Spielvolk fanden sich zu einem engagierten Betreuungsteam zusammen (siehe Fussnote).
Die weissen, sogenannten Auflass-Tauben kommen vor allem bei Hochzeitsfesten zum Einsatz. Wie Brieftauben finden die Hochzeitstauben dank ihrem guten Orientierungssinn über Hunderte von Kilometern zu ihrem Schlag zurück. Die dreihundert Meter Luftlinie vom Klosterplatz hinüber zu ihrer Unterkunft hätten die Tauben spielend selbst bei Nacht geschafft, zumal auch ihre Fütterungszeit an die Spielzeiten angepasst worden wäre.
Im Frühling 2020 liess man die Tauben erstmals auffliegen, von morgens bis abends. Tauben fliegen vorzugsweise im Schwarm – und die Welttheater- Tauben schienen sich fast einen Spass daraus zu machen, die Pferde auf der Koppel zu erschrecken. Deshalb beschränkte man ihre tägliche Flugzeit schliesslich auf zwei Stunden.
Die meisten der Einsiedler Tauben sind weiss wie frisch gefallener Schnee, nur eine sticht heraus: Bobby. Der Täuberich hat graue Flügelbinden, graue Schwanzfedern und ist auch sonst ziemlich gesprenkelt. «Das ist unser Erstgeborener», erklärt Claudia Capecchi nicht ohne Stolz, denn die Einsiedler Tauben haben während ihres Aufenthalts hinter dem Kloster auch Nachwuchs gezeugt. Frisch geschlüpfte Tauben sehen aus wie das sprichwörtliche hässliche Entlein. Sophie Schönbächler, eine der Taubenbetreuerinnen, fand die Taubenküken hingegen süss – die Schönheit liegt im Auge der Betrachterin. Nebst dem erfreulichen Nachwuchs waren auch Abgänge zu vermelden. Einige der weissen Vögel sind gestorben, andere sind von ihrem Ausflug nicht zurückgekehrt.
Die Tauben werden vermisst Niemand vom Betreuerteam hatte vor der Anschaffung der Tauben eine Beziehung zu den Vögeln oder Erfahrung in deren Pflege. Aber alle werden sie vermissen, wenn sie weg sind. Denn weg müssen sie, jetzt, da das Welttheater auf 2024 verschoben worden ist. Bis ins nächste Jahr hätten sie bleiben können. Das Einsiedler Klima vertragen sie gut, ihre Behausung ist komfortabler als der Tierschutz verlangt und das Taubenteam ist bestens organisiert, inklusive WhatsApp-Taubenchat. Aber bis 2024 wäre der Aufwand arbeitstechnisch wie finanziell zu gross gewesen. Ausserdem sind vier Jahre eine lange Zeit: Ob beim Welttheater 2024 dereinst Friedenstauben zum Einsatz kommen werden, ist noch völlig ungewiss.
Nach dem Freiflug gibts Futter, deshalb kehren die Tauben freiwillig in den Schlag zurück. Fotos: Gina Graber / Lukas Schumacher
Der unverwechselbare Bobby ist die allererste «weisse» Taube, die in Einsiedeln geschlüpft ist.
Dieses Taubenküken sieht aus wie ein hässliches Entlein, wird aber bald zur schneeweissen Schönheit. Küken-Foto: Claudia Capecchi
«Ich bin fasziniert von ihrer Intelligenz, Eleganz und Schönheit.»
Marianne Kälin, Taubenbetreuerin