Veröffentlicht am

Der Flug, der nie angekommen ist

Der Flug, der nie angekommen ist Der Flug, der nie angekommen ist

Passagiere und Crew-Mitglieder erinnern sich an die Flugzeugentführung vor 50 Jahren

Dass gemeinsam Erlebtes auch nach 50 Jahren noch starke Bande schafft, zeigte sich am Sonntagnachmittag eindrücklich und echt im Hotel Drei Könige in Einsiedeln. Festgehalten wurden die Erinnerungen auch von einem Filmteam für einen Dokumentarfilm.

MARLIES MATHIS

Auf den Tag genau vor 50 Jahren und ebenfalls an einem Sonntag, am 6. September 1970, wurde von einem Spezialkommando der Palästinensischen Befreiungsfront eine DC-8 der Swissair nach Gaza Airport, dem Militärflugfeld von Zerqa, in der jordanischen Wüste entführt. An Bord waren 143 vorwiegend amerikanische und schweizerische Passagiere und zwölf Besatzungsmitglieder, wovon der grösste Teil glücklicherweise nach einer Woche in die Schweiz zurückkehren konnte. Die letzten Geiseln, männliche Passagiere und ein Teil der Crew, wurden aber erst nach einem dreiwöchigen Alptraum freigelassen (EA 60/20).

Die Schweizer, welche diese weltweit grösste Operation in der Geschichte der Flugzeugentführungen hautnah miterlebt hatten, trafen sich darauf alle paar Jahre, um dieses Geschehens zu gedenken. Vor zehn Jahren war erstmals auch die in Einsiedeln wohnhafte Ruth Schmid-Egli, die als knapp 18-Jährige am 6. September 1970 ebenfalls an Bord der entführten Swissair- Maschine gewesen war, an einem solchen Treffen dabei. Da ihre Familie vorher als nach Amerika Ausgewanderte wahrgenommen wurde, waren sie, ihre beiden ebenfalls entführten Schwestern und ihre Mutter zuvor nie eingeladen worden.

Das ging unter die Haut

Die 68-Jährige und damit eine der Jüngsten erklärte sich nun bereit, den Anlass zum 50-jährigen Gedenken an dieses besondere Ereignis im Klosterdorf zu organisieren. Verständlich, dass von den damaligen entführten Schweizern nach dieser langen Zeit viele nicht mehr leben, allen voran der Flugkapitän, der Co-Pilot und der Navigator, dessen Sohn Björn Sollie dafür erfreulicherweise am Gedenktreffen teilnahm.

Ausserdem folgten fünf damalige Crew-Mitglieder und sechs Passagiere zusammen mit Angehörigen dieser Einladung nach Einsiedeln, und sie alle erlebten einen ergreifenden und denkwürdigen Nachmittag, der die unsichtbaren Bande des gemeinsam und dramatisch Erlebten noch vertiefte und deren Dank der aktiven und mit viel Herzblut agierenden Organisatorin gewiss war.

Nach einem Begrüssungsapéro im Hotel-Drei Könige bildete bereits die kurze Andacht mit Abt Urban im Oratorium des Klosters einen ersten Höhepunkt. Seine Worte zu Versöhnung, Friede und Dankbarkeit berührten tief und lösten bei einigen Tränen aus. Auch der abschliessend gesungene Kanon «Dona nobis pacem», der Abt Urbans Gedanken musikalisch bekräftigte, weckte Emotionen.

Grosses Medieninteresse

Nach einem feinen Essen aus der Drei-Könige-Küche hiess Ruth Schmid-Egli alle offiziell und herzlich willkommen. Dazu gehörte auch eine Handvoll Gäste, speziell aus dem Medienbereich. So freute sie sich sehr, dass einer der wohl profundesten Kenner der politischen Hintergründe dieser Entführung und eines Bombenanschlags auf eine andere Swissair- Maschine – bei der 47 Menschen ums Leben kamen –, der bekannte Journalist und Autor Marcel Gyr, als Gast anwesend war. Der gebürtige Einsiedler, der übrigens 2014 den Swiss Press Award gewonnen hatte, hat bereits in der «Neuen Zürcher Zeitung » vom vergangenen Samstag einen mehrseitigen Bericht zum damaligen Geschehen veröffentlicht. Er hat aber auch das brisante und spannende Buch «Schweizer Terrorjahre, das geheime Abkommen mit der PLO» geschrieben.

Ebenfalls war mit der Hook-Film-Truppe ein Quartett anwesend, das den ganzen Nachmittag diskret die Anwesenden und ihre Aussagen filmte. Bis Ende Dezember 2021 soll mit Unterstützung dieser Sequenzen der noch Lebenden, etliche von ihnen sind um die 80 Jahre oder mehr, für das Schweizer Fernsehen ein Dokumentarfilm zu dieser Flugzeugentführung vor 50 Jahren entstehen.

Von humorvoll bis bedrohlich

Allein schon wegen dieser Film-Equipe herrschte eine ganz eigene und ruhige Atmosphäre im Paracelsus-Saal. Begannen die ehemaligen Entführten jedoch begleitend zu den von Ruth Schmid-Egli grösstenteils chronologisch projizierten Originalfotos und -karten zu erzählen und in ihren Erinnerungen zu kramen, keimte oft eine spezielle Spannung auf, und man wurde selbst als Aussenstehende in den Bann dieses Ereignisses gezogen. Zumal die Betroffenen so viele verschiedene Geschichten aus so unterschiedlicher Perspektive erzählten. Was scheinbar teilweise widersprüchlich wirkte, war jeweils eine ganz persönliche Gewichtung der Wahrnehmung und der Erinnerung an Situationen, Erlebnisse und Details, mit Präzisierungen oder manchmal gar Berichtigungen nach so langer Zeit.

So ergänzten sich die vielen kürzeren und längeren Stories zu einem Puzzle aus dramatischen Momenten, vehementen Voten, humorvollen aber auch bedrohlichen Szenen, amüsanten Anekdoten und traurigen Episoden, kontroversen Kurzdiskussionen, persönlichen Statements und vielen facettenreichen Emotionen.

Bis das Lachen im Halse stecken geblieben ist … Die beiden ehemaligen Stewards Jean-Michel Weiss und Ernst Renggli erzählten beispielsweise, dass sie zu Beginn die Lage gar nicht ernst genommen hätten, und auch der Flugkapitän noch lauthals lachte, bis ihm dann das Lachen buchstäblich im Hals stecken blieb, als ihm die Gefahr durch das Terroristenpärchen mit vorgehaltener Pistole und Handgranate plötzlich bewusst wurde.

Auf die Frage, wie denn die Waffen ins Flugzeug gekommen seien, kam von der engagierten und noch sehr jung scheinenden Hostess Brigitta Moser-Harder, die extra das rote Seiden-Foulard trug, das damals auf dem Flug SR 100 nach New York erstmals ihren Hals schmückte und den Farbtupfer der neuen Uniform bildete, eine überraschende Antwort: «Es gab an den Flughäfen überhaupt keine Kontrollen, was die Passagiere mit ins Flugzeug nahmen. Und als Handgepäck konnte man fast so viel, wie man wollte, mitschleppen.» Ungläubiges Staunen, wenn man mit heute vergleicht.

Lacher rief auch die anschaulich erzählte Geschichte mit der Wolldecke und der Flasche mit alkoholischem Inhalt hervor, die ebenfalls Ernst Renggli, der damals das zu Beginn des Fluges völlig unauffällige Pärchen in der ersten Klasse bediente, zum Besten gab.

Den roten Faden finden

Immer wieder fielen an diesem Nachmittag auch englische Sätze, sozusagen im Originalton, wenn sich die Anwesenden in eine bestimmte Situation zurückversetzten und diese eins zu eins wiedergaben. Besonders interessant und authentisch waren auch die von Veronika Pasquinelli- Egli, der Schwester von Ruth Schmid-Egli, vorgelesenen Tagebucheinträge, die sie damals im Alter von knapp 13 Jahren geschrieben hatte.

Ebenso eindrücklich war der Brief, den die Passagierin Yvonne Meier von ihrem Mann, der noch die ganze Woche im Flugzeug ausharren musste, erhalten hatte und aus dem herauszuspüren war, dass sich für ihn die Lage gefährlich zuspitzte. Geradezu Todesangst ausgestanden hat gar der ehemalige Wädenswiler Stadtrat und Zürcher Kantonsrat Norbert Kuster, der während drei Wochen kaum etwas zu essen und täglich bloss zwei Becher Flüssigkeit bekommen hatte, wie er seine damalige missliche Situation und Gefühlslage beschrieb. Worte, die unter die Haut gingen.

Für Ruth Schmid-Egli war es geradezu ein Kunststück, die so in die Zeit vor 50 Jahren vertieften Anwesenden immer wieder in die heutige Realität zurückzuholen und damit erneut den roten Faden zu finden. Mit ihrer unaufdringlichen und einfühlsamen Art, den passenden Fragen und den zahlreichen Fotos, Karten, Schlagzeilen, Zeitungsausschnitten und gar einem originalen Filmausschnitt vermochte sie aber den schliesslich glücklichen Ausgang dieses Abenteuers mit der Rückkehr in die Schweiz zu einem für alle positiven Ende dieses bereichernden Nachmittags zu bringen. Und das obwohl dieser intensive Rückblick zwei Stunden ohne Pause dauerte, aber für niemanden nur eine Sekunde langweilig wurde, selbst für die Nichtbetroffenen nicht.

Norbert und Heidi Kuster im Gespräch mit Laurin Merz (Mitte) vom Filmteam. Fotos: Marlies Mathis

Das Hook-Filmteam hielt die Erinnerungen an die Flugzeugentführung für einen Dokumentarfilm fest.

Die Einsiedlerin Ruth Schmid-Egli sass vor 50 Jahren selbst im Flugzeug; sie war eine Organisatorin mit Herzblut.

Die damalige Hostess Brigitta Moser war ebenfalls in Einsiedeln zu Besuch – gekleidet mit dem Original-Foulard des Jahres 1970. Hier stellt sie den Journalisten Marcel Gyr vor.

Die beiden Schwestern Veronika Pasquinelli und Heidi Hunninghaus: Die Schwestern von Ruth Schmid waren bei den jüngsten Schweizer Entführungsopfern.

Share
LATEST NEWS