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Arzneien, Heilige und Magie oder ein Aderlass zur Regulierung der Körpersäfte

Arzneien, Heilige und Magie oder ein  Aderlass zur Regulierung der Körpersäfte Arzneien, Heilige und Magie oder ein  Aderlass zur Regulierung der Körpersäfte

In Unkenntnis von Viren und Bakterien wurden Krankheiten früher meist als Schicksal, Prüfung Gottes oder Strafe für begangene Sünden angesehen. Zur Behandlung der Leiden wendete man eine Kombination von Haus- und Heilmitteln, kundige Personen, religiöse Praktiken und Magie an.

MARTINA KÄLIN-GISLER*

Als Ursachen für Krankheiten machte man bis ins 19. Jahrhundert ein Ungleichgewicht der Körpersäfte, üble Dünste, ungünstige Planetenkonstellationen, böse Geister oder feindselige Menschen verantwortlich. In den Kirchen galt die Vorstellung, dass kranke Menschen von Gott geprüft oder für ihre Sünden und andere Vergehen bestraft werden. So vielfältig die angeblichen Ursachen für die Krankheiten waren, so vielfältig waren auch die Therapiemöglichkeiten der auf Erfahrungen und irrationalen Heilpraktiken basierenden Volksmedizin. Wenn die üblichen Hausmittel, Heilkräuter und Arzneien nicht halfen, suchte man fachkundige Personen auf, betete zu den Heiligen oder machte eine Wallfahrt. Weit verbreitet waren auch magische Rituale. Besonders erfolgsversprechend waren Behandlungen, welche die verschiedenen Therapieformen in komplexem Zusammenspiel kombinierten. Das Arzneibuch von Landammann Michael Schorno Einen hervorragenden Einblick in die Schwyzer Volksmedizin des 17. Jahrhunderts gibt das Arzneibuch von Landammann Michael Schorno (1598 bis 1671) aus Schwyz. Während gut 40 Jahren sammelte er Rezepte, Arzneien, Behandlungsmethoden und Segenssprüche aus gedruckten Arzneibüchern und von Gewährsleuten. Dabei nennt er nicht nur seine Quellen wie den «Schulmeister zuo Sewen», sondern gibt Auskunft über den Erfolg der Behandlung oder die Qualität des Rezepts: «Ich habs an drei Personen also probiert, hat in [ihnen] als bald gehört und nicht wieder kommen; sie leben noch alle drei.» Bei Haarausfall empfahl der Landammann Zibet (Drüsensekret der Zibetkatze) und Rosmarin in Weisswein aufzukochen und damit die Haare täglich zu befeuchten. Gegen entzündete Augen buk er rote Ameisen in einem mit Brotteig umwickelten Fläschchen, mischte sie dann mit Wasser zu Augentropfen. Für die Arzneien, Tinkturen und Umschläge in Schornos Sammlung wurden teilweise alltägliche Zutaten wie Brot, Wein oder Heilkräuter verwendet. Speziellere Bestandteile wie Skorpiongift, Einhorn- und Mumienpulver waren in Apotheken erhältlich.

Bis ins späte 18. Jahrhundert bestand zwischen der Laienmedizin und der von studierten Ärzten und handwerklich ausgebildeten Chirurgen, Scherer und Bader angewandten Medizin kaum ein Unterschied. Eine der häufigsten Anwendung bei Krankheit und zum Schutz davor war der Aderlass. Er diente zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Körpersäfte. Je nach Krankheitsbild, Jahreszeit und Planetenkonstellation erfolgte die Venenöffnung beim Aderlass an unterschiedlichen Stellen.

1631 zitierte die Schwyzer Obrigkeit verschiedene Personen vor den Rat, die «keine Erfahrnus» im Aderlass hatten, diesen dennoch praktizierten. Noch 1798 wurde der bei Rothenthurm im Kampf gegen die Franzosen verwundete Sohn von Lienhard Schmidig als Teil der Behandlung zu Ader gelassen. Anderen Verwundeten wurden von Dr.med. Josef Anton Sidler aus Küssnacht neben inneren und äusseren Arzneien auch eine Brechmixtur und Einläufe verabreicht. Die Männer sollten dadurch von schädlichen Säften befreit werden.

Heilige helfen bei Zahnschmerzen und Fieber Die Lebensgeschichte von einigen Heiligen führte dazu, dass speziell sie bei Krankheiten als himmlische Fürsprecher für eine rasche Heilung angerufen wurden. Weil Appollonia von Alexandria vor dem Tod die Zähne herausgeschlagen wurden, galt sie als Helferin gegen Zahnschmerzen. Bei Brandwunden, Fieber und Rückenschmerzen betete man zu dem auf einem glühenden Rost zu Tode gemarterten Laurentius.

Am 14.Mai 2020 erschien in verschiedenen Online- und Printmedien die Meldung, dass dies der Tag der heiligen Corona ist. Die im Dom von Münster bestattete Märtyrerin gilt als Schutzpatronin der Schatzgräber und Metzger und soll vor Hagel und Viehseuchen bewahren. Für die Corona- Pandemie ist aber der heilige Sebastian der geeignetere Fürsprecher, er hilft bei Pest und Seuchen.

Wallfahrten In gesundheitlich bedrohlichen Situationen und in Not versprachen die Menschen häufig eine Wallfahrt. Noch heute zeugen in Kirchen und Kapellen aus Dankbarkeit («Exvoto») gestiftete Bilder, Nachbildungen von Gliedmassen und Organen aus Silber, Wachs und Holz oder Krücken von Heilungserfolgen. Beliebte Wallfahrten führten zur Franz-Xaver-Kapelle in Morschach, zur Kapelle Maria zum Schnee in Rigi-Klösterli, zur Kapelle im Ried in Lachen oder zur Linthbortkapelle bei Tuggen.

Mit der Marienverehrung in der Gnadenkapelle wurde Einsiedeln seit dem 14. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Wallfahrtszentren Europas. Mitte des 16. Jahrhunderts begann man in Einsiedeln, die Berichte von Pilgern zu sammeln, die von Heilungserfolgen dank der Fürsprache Marias erzählten.

In Mirakelbüchern wurden diese Berichte gesammelt und als Teil von gedruckten Klosterchroniken einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Eine Auswertung der Mirakelbücher von 1587 bis 1674 ergab, dass rund 520 Menschen ihre Rettung und Genesung nach körperlichem Leiden, Unfällen und Notsituationen der Gottesmutter zuschrieben. Die körperlichen Beschwerden reichten von angeborenen Leiden über Infektionskrankheiten, Schwangerschaft und Kindbett bis zu Lähmungen und Geschwüren.

Magische Religion – religiöse Magie Da man glaubte, dass Krankheiten auch von bösen Blicken, neidischen Mitmenschen, Dämonen oder Geistern verursacht wurden, kombinierten die Menschen häufig Arzneien und Gebete mit Magie. Dabei waren die Grenzen zwischen Religion und Volks- oder Aberglauben fliessend. Geweihte Medaillen aus Einsiedeln oder anderen Wallfahrtsorten und Heiligenmünzen wurden mit besonderen Kreuzen – etwa doppelbalkigen Caravacakreuzen – an den Rosenkranz gehängt und sollten den Besitzer vor Unglück und Krankheit schützen. Der Amulettcharakter dieser Medaillen und Kreuze wurde noch betont, wenn man sie um den Hals trug.

Sehr beliebt waren auch die Einsiedler Schabmadonnen, geweihte Kopien des Gnadenbildes aus meist ungebranntem Ton. Bei Krankheit schabte man ein wenig Ton von der Figur ab und nahm das Pulver ein. Die Schabmadonnen enthielten neben Ton auch Reste von Heiligenreliquien oder Mörtel der Grabkapelle. Verschiedene Mirakelberichte bestätigten die Wirksamkeit dieser Behandlung. Da diese Figuren bald kopiert wurden, sollte ein Prägestempel auf dem Rücken die Echtheit von Einsiedler Schabmadonnen garantieren.

In Landammann Schornos Arzneibuch ergänzen gesegnete Zutaten, Segensformeln und Gebete die Behandlungen oder ersetzen diese ganz. Am 5. Februar gesegnetes Agatha-Brot wurde mit Änis, Wacholderbeeren und heiligem Öl vermischt als Mittel gegen Schwindel empfohlen. War etwas ins Auge gefallen oder geflogen, empfahl Landammann Schorno folgenden Segensspruch dreimal: «Es ist mir etwas in ein Auge gefallen, wolle Gott, dass es wieder hinausfalle.»

*Martina Kälin-Gisler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Staatsarchiv Schwyz.

Sehr beliebt waren früher die Einsiedler Schabmadonnen. Foto: zvg

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