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Eine Woche in der Hand

Eine Woche in der Hand Eine Woche in der Hand

Es war die grösste Operation weltweit in der Geschichte der Flugzeugentführungen: die palästinensische Aktion 1970, bei der auch die Schweiz betroffen war. Und Einsiedeln.

MARLIES MATHIS

Vor 50 Jahren wurde eine DC-8 der Swissair auf dem Weg von Zürich nach New York in die jordanische Wüste entführt und schliesslich zusammen mit zwei weiteren Maschinen in die Luft gesprengt. An Bord des Swissair Fluges 100 war auch die in Einsiedeln wohnhafte Ruth Schmid-Egli gewesen, die ihre persönlichen Erlebnisse von damals schildert.

«Hat mein Leben nie dominiert»

Sie strahlt eine Ruhe und Zufriedenheit, aber auch eine Neugier und Offenheit aus, die 67-jährige Ruth Schmid-Egli, welche an der Guggusstrasse in Einsiedeln wohnt. In ihren Erzählungen macht die engagierte Pflegefachfrau auf die Interviewerin einen unglaublich geerdeten Eindruck, und es dringt immer wieder ein ihr eigener Optimismus in allen Lebenslagen durch.

Gerade diese positive und gelassene Haltung ist wohl mitentscheidend dafür, dass sie im Alter von knapp 18 Jahren ein so einschneidendes Erlebnis wie eine Flugzeugentführung und eine Woche in der Gewalt von palästinensischen, sogenannten Hijackern und Fedayinen unbeschadet überstanden und dieses Ereignis nie ihr Leben dominiert hat. «Diese Charaktereigenschaft haben wir wohl von unserer Mutter geerbt, die auch noch über einen fast ansteckenden (Galgen-)Humor in jeglichen Situationen verfügte», führt die aktive Rentnerin mit einem schelmischen Lachen aus. Einzig direkt nach der Heimkehr via Zürich nach Amerika, als sie in New Jersey wie Heldinnen in der Schule empfangen worden seien, habe sie immer wieder von dieser Entführung und den Tagen danach erzählt und so das Geschehen wohl auch verarbeitet, sinniert die vierfache Grossmutter.

Auch ihr Mann Werner bestätigt, dass er diesen Teil der Lebensgeschichte seiner Frau noch selten gehört habe, und auch ihre drei Töchter haben erst davon erfahren, als sie schon erwachsen waren. «Dies jedoch auch aus dem Grund heraus, die Mädchen zu schützen, habe ich doch selber immer wieder ein ganz ungutes Gefühl bei den Start- und vor allem Landeanflügen verspürt, geprägt durch das Erlebte im entführten Flugzeug », ergänzt die als Tochter eines Ledergerbers in der Ostschweiz geborene Ruth.

Der Beruf des Vaters sei auch der Grund gewesen, weshalb die Familie 1961 nach Kalifornien ausgewandert sei, seien doch mit dem steigenden Import von günstigem Schuhwerk die Gerbereien in der Schweiz grösstenteils geschlossen worden. So hätten sie zuerst bei ihren Verwandten in Ripon gelebt, die eine Mandelfarm und eine Schmiede betrieben hätten. Nachdem ihr Vater wieder eine Anstellung in seinem angestammten Beruf gefunden habe, seien sie zuerst nach Santa Cruz und danach nach New Jersey, einem Nachbarstaat von New York, gezogen, bis sie 1972 wieder in die alte Heimat zurückgekehrt seien.

Nichtsahnend im Flieger in die USA

Zweimal in all diesen Jahren seien sie aber in die Schweiz zurückgeflogen, um ihre Sommerferien im geliebten Toggenburg zu verbringen, zumal ihr Vater inzwischen in New York und später in Basel für die Sandoz tätig war.

So seien sie, sprich ihre Mutter, sie selber und ihre beiden jüngeren Schwestern Heidi und Veronika, am 6. September 1970, zusammen mit weiteren rund 140 Passagieren am Mittag in die DC-8 der Swissair eingestiegen und hätten wie meist links hinter den Flügeln, in der Nähe des Notausstiegs, ihre Plätze eingenommen, und sie hätten pünktlich abgehoben, um rechtzeitig auf den Schulanfang wieder in New Jersey zu sein.

Alpen statt Atlantik Komisch sei es ihnen dann einzig vorgekommen, dass sie während des Fluges die Stadt Paris und danach den Atlantik nicht gesehen hätten, sondern wieder die Alpen, also Richtung Osten. Dieses Rätsel löste sich kurz darauf, als plötzlich eine männliche und eine weibliche Person, beide mit Strümpfen über dem Kopf, vorne beim Cockpit standen und es im Flugzeug mucksmäuschenstill wurde. Die Frau, eine Handgranate haltend, begann, da ja der grosse Teil der Passagiere Amerikaner war, auf Englisch zu sprechen. Die Swissair-Maschine befinde sich nun unter Kontrolle eines Spezialkommandos der palästinensischen Befreiungsfront (PLFP), und es dürfe sich ab sofort niemand mehr von den Sitzen erheben. So hätten sie dann beispielsweise zwischen den Sitzen in die «Brechtüten» gepinkelt, erinnert sich die damalige Mittelschülerin.

Langsam habe es eingedunkelt, und sie seien immer noch geflogen, ohne zu wissen, wohin es eigentlich gehen sollte, und sie hätten leise miteinander geredet, erzählt sie weiter. An ein Detail könne sie sich ebenfalls noch gut erinnern: «Unverhofft ist weiter vorne im Flugzeug ein Amerikaner aufgestanden und hat für uns alle laut angefangen zu beten. Das war eine richtige Beruhigung, und die Flugzeugentführer haben ihn machen lassen. Es ist auch keine Panik ausgebrochen, wir blieben grösstenteils alle gefasst. Das entspricht zum Glück meinem Naturell, dass ich in aussergewöhnlichen Momenten Ruhe bewahren kann, mich einfach dreinschicke und funktioniere», ergänzt die gebürtige Toggenburgerin.

Maschinengewehre auf sie gerichtet Angst hätten sie allerdings alle bekommen, als der Flieger gleich einige Male in einen steilen Sinkflug überging, jedoch immer wieder durchstartete und an Höhe gewann. Wie sie später erfahren habe, sei ihnen an verschiedenen Orten die Landung verweigert worden. Schliesslich hätten sie in einer Wüste Markierungen in Form von kleinen Feuern entdeckt und hätten dann um 19.14 Uhr knallhart aufgesetzt. Der Pilot habe so abrupt bremsen müssen, dass es auf beiden Seiten funkte, weil bereits ein weiteres entführtes Flugzeug, eine Boeing 707 der amerikanischen Luftfahrtgesellschaft TWA, vor ihnen auf der Landebahn von Gaza Airport, mitten in diesem ausgetrockneten Wüstensee, dem Militärflugfeld von Zerqa, rund 60 Kilometer nordöstlich von Jordaniens Hauptstadt Amman stand. Ausserdem wurde so viel Sandstaub aufgewirbelt, dass es wie Rauch aussah, der selbst den Weg ins Innere des Flugzeugs fand. Aus diesem Grund hiess es: «Feuer! Sofort die Notausstiege benutzen und den Flieger über die Rutschen verlassen!» Diesen Moment hat die damals junge couragierte Dame nie vergessen, hat sie doch ihre jüngste Schwester Veronika bei der Hand genommen und die Maschine über den linken Notausgang verlassen, während ihre Mutter mit Heidi, der Mittleren, über die gegenüberliegende Rutsche zu Boden kam. Ihr Ziel, beschreibt Ruth diese für sie dramatische Situation, sei es in diesem Moment einzig gewesen, wieder zu ihrer Mutter zurückzufinden. Sie habe deshalb ihre Schwester gepackt und sei mit ihr ganz schnell hinten um die Maschine herumgerannt, während halbkreisförmig Maschinengewehre auf sie gerichtet gewesen seien, ein unheimliches Gefühl.

Im Konvoi nach Amman

Genauso eingeprägt hat sich bei ihr die nächste Handlung. Sogleich zeigt Ruth Schmid-Egli vor, wie sie sich, nachdem sie alle wie Vieh zusammengepfercht worden waren, hinknien und die Arme in die Höhe strecken mussten, während ihnen ihre Pässe abgenommen wurden. Da sei ihr definitiv bewusst geworden, dass sie nun Gefangene seien.

Danach wurden sie alle wieder zurück ins Flugzeug beordert, und eine lange, unruhige und mehr oder weniger schlaflose Nacht begann, während draussen die Mitglieder der Befreiungsfront lautstark ihre Entführungsaktionen feierten. Ein Kränzchen sei aber der ganzen Besatzung der schweizerischen Maschine zu winden gewesen, hätten sich doch diese Personen alle sehr souverän verhal-

Ruth Schmid-Egli blättert im Garten ihres Hauses an der Guggusstrasse in Erinnerungen an die Flugzeugentführung 1970. Foto: Marlies Mathis

Auch das Schweizer Fernsehen berichtete 1970 über die Entführung der drei Flugzeuge – hier die Swissair-Maschine. Screenshot: SF

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