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«Ich bin ausgezogen, die Weisheit zu lernen»

«Ich bin ausgezogen, die Weisheit zu lernen» «Ich bin ausgezogen, die Weisheit zu lernen»

Marcel Reding ist einer der ersten ordinierten Zen-Mönche der Schweiz und hat im Klosterdorf einen Tempel und eine Akademie gegründet, welche die Erkenntnis der absoluten Realität fördern möchte. Der Verein in Einsiedeln hat sich Erleuchtung, Empathie und Erlösung aller Lebewesen vom Leiden des Lebens und des Sterbens auf die Fahnen geschrieben.

MAGNUS LEIBUNDGUT

Was ist die absolute Realität?

Die absolute Realität ist das Gegenteil von «Alles ist relativ ». Sie geht von einer einzelnen Person aus, ist also individuell grundiert. In diese Wirklichkeit hinein kommt man am besten durch Meditieren, Kontemplieren, durch ein stetes Untersuchen, was ist, mit allem, was man hat. Familie zu haben, ist beste Meditation, weil da hat man alles ausser Ruhe (lacht). Wer eine Familie hat, muss lernen, Ruhe im Chaos zu finden. Wieso haben Sie als Zen-Mönch das Zölibat aufgegeben? Als ich in Japan und Korea lebte, hat zum Leben im Tempel auch das Zölibat gehört. Hauptsächlich, weil mir schlicht keine Zeit für anderes geblieben ist. Nach der Ausbildung steht es jedoch jedem Mönch frei, eine Familie zu gründen oder zu heiraten. Im Zen-Buddhismus gibt es im Gegensatz zum Katholizismus keine doktrinär vorgeschriebene Ehelosigkeit. Nichtsdestotrotz führen viele Zen-Mönche lieber ein Leben in Ruhe und Einsamkeit. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, nach Japan auszuwandern? Bereits als Teenager bin ich erstmals mit Zen in Berührung gekommen. Im Alter von 26 Jahren beschloss ich, in Japan in einem kleinen Zen-Tempel als Novize anzuheuern. Mönch zu werden, ist ein Trieb. Es folgte eine zehnjährige Ausbildung in Japan und Südkorea. Es war ein hartes und asketisches Leben. Man ass, was in die Schale kam und von den Almosen. Bevor die Ausbildung begann, musste ich als Novize eine ganze Woche lang auf Knien um den Eintritt in den Tempel betteln. Nur um zu essen und für drei Stunden Schlaf wurde ich hineingelassen. Das Ganze kam mir schon etwas samuraimässig vor. Sind Sie ausgezogen, um die Weisheit zu lernen? Ja, das kann man so sagen. Weil Zen bedeutet Weisheit. Allerdings würde ich den Zen-Buddhismus nicht als eine Philosophie bezeichnen, sondern vielmehr als eine Religion, auch wenn er keine klassischen Götter im Programm führt. Denn Zen geht zurück zum Ursprung, zum Göttlichen, der aus dem Chaos Ordnung schafft. Im Gegensatz zum Christentum spielt der Glauben im Zen keine grosse Rolle. Ich glaube jedenfalls nicht an ein Jenseits nach dem Tod. Zumindest weiss ich nicht, was nach dem Tod kommen mag. Vielleicht einfach ein Ortswechsel?

Wie wird man erleuchtet?

Man ist es schon (lacht), von Anfang an. Weil Gott ist überall, also auch in jedem Menschen drin. Wo sollte ich Gott denn schon suchen wenn nicht in mir selbst? Gott ist nicht etwas ausserhalb, das auf einen warten würde. Ich habe mich auch nie entschieden, Mönch zu werden, ich hatte da vielmehr gar keine Wahl, es war von Anfang an klar. Ich musste nur noch meine Eltern fragen, ob ich die Reise in den Fernen Osten antreten dürfe. Eine Flucht war es nicht. Meinen Eltern war es wichtig, dass ich zumindest eine Ausbildung bereits abgeschlossen hatte. Spiritualität wird oftmals assoziiert mit etwas vollends Vergeistigtem. Dabei ist sie gänzlich bodenständig.

Wie haben Sie den Weg zum Zen entdeckt? Durch das Alleinsein und das gleichzeitige Gegenteil davon. Als ich zu Beginn meiner Ausbildung vom Abt des Klosters für hundert Tage in eine Einsiedelei geschickt wurde, staunte ich darüber, dass die Schale vor meiner Zelle jeden Tag reichlich gefüllt war. Es ging mir sehr gut, so ganz allein, und ich fühlte mich wie Peter Pan, der alles kann. Allerdings ist dieser erfüllt von Verantwortungslosigkeit, Egoismus und Narzissmus. Ich machte die Erfahrung, dass eigenes Denken sehr totalitär werden kann. Als ich zurück ins Kloster kam, stellte sich alles wie eine grosse Illusion dar: Ich erfuhr vom Abt, dass er extra Leute in meine Einsiedelei geschickt hatte, die mir Lebensmittel in die Schale legten, auf dass ich nicht verhungere.

Dann führt das Eremitendasein nicht in die Erleuchtung? Für eine bestimmte Zeit kann das Alleinsein durchaus heilend wirken. Aber ein ganzes Leben lang Einsiedler zu sein, das kann nur ganz wenigen gelingen und ist den meisten nicht wirklich zu empfehlen. Denn die Versuchung ist gross, sich im Alleinsein im eigenen Denken zu verlieren und totalitär zu werden. Viel wichtiger dünkt mich, einen Dialog mit den Mitmenschen zu führen, auf Augenhöhe, eins zu eins. Sind Sie eher der Gruppentyp?

Ich finde Gemeinschaft etwas Schönes und Wertvolles, bin aber eher gegen ein Gruppendenken eingestellt. Ich agiere lieber hinter den Kulissen und bin weniger ein Vereinsmeier. Es käme mir jedenfalls nie in den Sinn, mit meiner Mönchsrobe durch das Klosterdorf zu wandeln. Vielmehr scheue ich das Licht der Öffentlichkeit. Ich verspüre wenig Motivation, mich in den Vordergrund zu rücken. Wo sehen Sie Unterschiede beziehungsweise Gemeinsamkeiten zwischen dem Mönchsleben in Ihrem Orden und den Benediktinern im Klosterdorf? Ironie der Geschichte ist, dass ein Urahne und Vorfahre von mir, August Reding, am Ende des 17. Jahrhunderts Abt des Klosters Einsiedeln war. Ich schätze das Wirken der Benediktiner sehr und erachte sie als eigenständige, individuelle Persönlichkeiten. Ich bewundere den Status des Klosters, das – nahezu einmalig in der Kirchengeschichte – exemt und also nicht dem Bischof in Chur, sondern direkt dem Papst unterstellt ist. Ich selber bin allerdings eher von einer protestantischen Ethik denn vom Katholizismus geprägt worden. Dementsprechend leichter ist es mir gefallen, mich vom Zölibat zu lösen und eine Familie zu gründen.

Sie haben zuerst in Einsiedeln und dann in Reichenburg einen Tempel gegründet. Worin unterscheidet sich ein Tempel von einem Kloster?

Um als ordinierter Zen-Mönch praktizieren zu können, musste ich zunächst einen Tempel gründen. Bei einem Tempel handelt es sich nicht um eine Pagode, wie man sie aus Asien kennt. Ein Tempel bietet Platz für Menschen, die länger bleiben wollen. Oder für Schüler meiner Akademie, die ich ins Leben gerufen habe. Der Lehrgang an der Zen-Akademie dauert viereinhalb Jahre und beinhaltet ein Auslandsemester in Japan oder Südkorea. Einer meiner Schüler, Zen-Mönch Alain Lafon, hat bereits einen eigenen Tempel in Glarus gegründet. Nimmt Ihr Tempel Menschen auf, ähnlich wie dies christliche Klöster anbieten?

Alle sind herzlich willkommen für einen Kurz- oder Langzeitaufenthalt im Zen-Tempel – sei es für ein paar Monate, Wochen oder Tage. Die Tempelpforten sind immer geöffnet. Die Leute können während des Tempelaufenthalts ihre reguläre Arbeit ausüben. Es gibt einen geregelten Tagesablauf, so startet der Tag mit einer Meditation um vier Uhr in der Früh. Und es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Buddhismus boomt seit Jahren. Wird Ihr Tempel überschwemmt von Leuten, die den ganzen Tag lang meditieren wollen? Das Dasein in einem Tempel inklusive das Meditieren sind weder ein Zuckerschlecken noch Ferien, sondern vielmehr harte Knochenarbeit. Mit Buddhismus wird so vieles verbunden. Wir haben wenig mit Tibet zu tun oder einem politisch gefärbten Buddhismus, wie er in Sri Lanka oder Burma gelebt wird. Wir betreiben Zen. Deswegen wäre es auch vermessen, davon auszugehen, dass ich davon leben könnte. Vielmehr verdiene ich mein Geld als Hilfsarbeiter in einem Holzbeizer-Betrieb im Klosterdorf.

Im Kern bleibt das Meditieren die zentrale Beschäftigung. Wie kann ich das Denken stoppen?

In der Leere ist alles drin, weil sie alles gibt. Die Vorstellung, mittels Meditieren das Denken per Knopfdruck abstellen zu können, ist verfehlt. Meditieren heisst in erster Linie Untersuchen. Und Untersuchen bedeutet Denken, Nachdenken: Atme tief ein und denke das Undenkbare. Sitze gemütlich und dringe in die Tiefe der Tiefe ein. Sie meditieren auch auf Friedhöfen. Wie kommt es dazu? Friedhöfe sind Orte, an denen für viele Menschen eine meditative oder gar spirituelle Atmosphäre spürbar ist. Und sie erinnern uns an unsere Vergänglichkeit. Im Jahr 2017 habe ich die Besucher erstmals an eine von mir geleitete offene Meditation auf dem Friedhof Sihlfeld eingeladen teilzunehmen. Das kam gut an, und deshalb geht es weiter. Ich mache überdies auch Rituale für Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen und begleite Sterbende. Für Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, aber trotzdem «öppis Richtigs» wünschen an Wendepunkten ihres Lebens. Was verbindet Sie mit dem Reformator Huldrych Zwingli? Huldrych Zwingli setzte sich nicht zuletzt auch in Einsiedeln für die Redefreiheit ein. Seine Persönlichkeit und sein Wirken überzeugen mich. Und so organisiere ich im Jahr 2022 ein Wurstessen zum 500-Jahr-Jubiläum des 1522 in Zürich über die Bühne gegangenen Wurstessens, an dem Huldrych Zwingli teilnahm. Und das schliesslich die Reformation in der Schweiz auslöste. Würden Sie sich selbst als einen Guru bezeichnen? Oh nein (lacht), Gurus gibt es im Hinduismus in Indien, aber nicht im Zen. Eher bin ich einfach ein Abt meines Ordens. Ich verlange von meinen Schülern keinen absoluten Gehorsam, sondern will ihnen vielmehr lehren, selber zu denken. Autorität ergibt sich nicht aus der Stellung, sondern basiert auf Kompetenz, die schliesslich eine Hierarchie erzeugt. Autoritär muss ein Abt zu seinen Schülern in dem Sinne sein, wie sich ein Vater zu seinen Kindern verhält. Wohin bewegt sich die Welt?

Sie bewegt sich zurück zu ihrem Anfang. Die ganze Welt brennt, so wie sie schon immer gebrannt hat. Ich bin sehr zuversichtlich und optimistisch, was den Lauf der Erde betrifft. Wann gab es auf dieser Welt weniger Kriege, Konflikte und Hunger als in der jetzigen Zeit?

«Spiritualität wird oftmals assoziiert mit etwas vollends Vergeistigtem. Dabei ist sie gänzlich bodenständig.» «Die Versuchung ist gross, sich im Alleinsein im eigenen Denken zu verlieren und totalitär zu werden.»

Marcel Reding alias «Masan Doam» in der Dachkammer des Hauses zur Säge am Sagenplatz in Einsiedeln, in dem sich der Eremita-Zen-Tempel befindet.

Foto: Magnus Leibundgut

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