Veröffentlicht am

«Der Bergsturz ist immer noch lebendig»

«Der Bergsturz ist immer noch lebendig» «Der Bergsturz ist immer noch lebendig»

In seinem Heimatdorf Goldau ist Roland Marty eine Institution. Aus zwei Gründen: Er unterrichtete 40 Jahre lang als Sekundarlehrer, und keiner kennt das Bergsturzgebiet so gut wie er.

von Manuela Gili Sidler*

Salü Roli. Hast du dieses Jahr schon ein ‹Fleugeli› gesehen?» An diesem Morgen scheinen sich im Sonderwaldreservat «Goldauer Bergsturz» nur Personen zu bewegen, die Roland Marty kennen. Doch der 79-Jährige muss den Fragesteller enttäuschen, auch er hat bisher die Orchidee Fliegenragwurz noch nicht gesichtet. Die beiden Herren fachsimpeln noch ein wenig, ob es an der Trockenheit im Jahr 2019 liege oder ob es einfach noch zu früh sei. Wenn die Orchideen blühen, ist Roland Marty fast täglich im Gebiet anzutreffen. Das Sonderwaldreservat liegt nahe der Abbruchstelle, wo 1806 der grösste Felsrutsch der Schweiz seinen Lauf nahm.Im mit Felsblöcken übersäten Gelände wächst der Wald sehr locker, was vielen Orchideenarten gefällt, die Halbschatten bevorzugen. «Ich bin kein Botaniker», sagt Roland Marty bescheiden und erläutert die nächste Blume am Wegesrand. Er kenne einfach die Geschichte und die Eigenarten des Bergsturzgebiets.

Das Bergsturzgebiet als Spielplatz

Auf einem Bauernhof am Rand des Bergsturzgebiets aufgewachsen, weiss er auch viele Anekdoten zu erzählen. Von Sumpflöchern und Schlangen neben dem Haus, die ihn als Kind faszinierten. Von jugendlichen Eishockeyspielen auf gefrorenen Tümpeln, die es heute nicht mehr gibt. Oder von scharfen Schiessübungen weit oben am Hang und fernab der Augen der Eltern. Sein Interesse an den Hintergründen des Bergsturzes weckte in den 1950er-Jahren sein Lehrer Josef Niklaus Zehnder, als dieser das Buch «Der Goldauer Bergsturz» veröffentlichte. Seither registrierte auch Roland Marty die Veränderungen. «Der Bergsturz ist immer noch lebendig», sagt er und erinnert an den August 2005. Damals begann – wie 1806 – alles mit einem langanhaltenden starken Regen. Es habe sich so viel Material am Berg gelöst, dass Goldau einen Tag lang weder per Bahn noch per Auto erreichbar gewesen sei.

Rettung der Orchideen In den 1970er-Jahren stiess Roland Marty zur Vereinigung Pro Rossberg. Diese war rund zehn Jahre zuvor gegründet worden, um die Orchideenwelt zu retten. «Die Leute pflückten ganze Frauenschuh-Sträusse oder gruben sie sogar aus», erinnert er sich. Viele davon schmückten später die Tische der Goldauer Restaurants. Um die Leute zu sensibilisieren, begann er mit Führungen für Kleingruppen.Diese Tätigkeit hat er bis heute beibehalten. 1995 wurde eine 15 ha grosse Fläche als Sonderwaldreservat ausgeschieden, und Roland Marty nahm seine Funktion als Kassier auf. So instruierte und bezahlte er zum Beispiel alle fünf Jahre Studenten, welche die Pflanzen im Gebiet erfassen mussten, um die Rückeroberung durch die Natur zu dokumentieren.

In seinem Leben ist Roland Marty viel gereist.In den vergangenen Jahren hat er jeweils einen Teil des Winters in Lateinamerika verbracht,um Spanisch zu lernen. Doch er kehrt immer wieder gern in seine Heimat, zum Bergsturz und den Orchideen zurück. «Eine Pracht»,urteilt er.Und genau an diesem Tag findet er auch die erste Fliegenragwurz des Jahres. Kein Wunder, wählen auch andere Wanderer hinter ihm «zufällig» denselben Weg an diesem Morgen.

*Manuela Gili Sidler arbeitet für Schwyz Tourismus und ist zuständig für Medien und Kommunikation.

Goldauer Orchideenpracht: (von oben links im Uhrzeigersinn): Fliegenragwurz, Frauenschuh, Waldhyazinthe und Weisses Waldvögelein.

Bilder Manuela Gili Sidler

Riesige Felsblöcke liegen im Wald und weiter unten am Hang in den Wiesen. Roland Marty: «Ich bin mit dem Bergsturz aufgewachsen.»

Share
LATEST NEWS