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«Könnte er sprechen, hätte Felix Fässler sicher viele Fragen»

«Könnte er sprechen, hätte  Felix Fässler sicher viele Fragen» «Könnte er sprechen, hätte  Felix Fässler sicher viele Fragen»

Mit 17 Jahren wurde der taubstumme Felix Fässler aus Oberiberg im damaligen Invalidenheim Hurden abgegeben wie ein Kofferstück, das nicht mitgenommen werden kann. Das war vor 73 Jahren.

HEIDI PERUZZO

1947 wurde der 17-jährige, taubstumme Mann im damaligen Invalidenheim Hurden abgegeben. Familie Fässler aus Oberiberg wollte nach Amerika oder Neuseeland auswandern, so genau ist das nicht überliefert. Der behinderte Junge wäre da wohl nur ein Hindernis gewesen.

«Wir wissen sehr wenig»

«Leider wissen wir sehr wenig über die Lebensgeschichte und die Umstände seiner Familie», erzählt Schwester Jolenda Elsener. Die Baldegger-Schwester kam 1961 nach Hurden, sie war gerade mal 14-jährig. Felix war zu dieser Zeit 31 Jahre alt. Heute leitet Schwester Jolenda das Hospiz, welches nebst dem Heim für Behinderte im Antoniusheim untergebracht ist. Sie ist die engste Vertraute des ehemaligen Findelkinds Felix.

«Eine Vorgängerin von mir hat erzählt, dass Felix zusammen mit seinem kranken Vater abgegeben wurde. Dieser starb angeblich kurze Zeit später im Heim.» Was für Schwester Jolenda unverständlich ist: «In all den Jahren hat sich nie jemand nach dem Befinden von Felix erkundigt, er bekam nie einen Brief oder ein Lebenszeichen von seiner Familie», wundert sich die Baldegger-Schwester noch heute.

Den Bruder nicht erkannt

«Vor fünf Jahren hat sich dann aber am Empfang des Antoniusheims ein älterer Herr gemeldet und gesagt, dass er der Bruder von Felix Fässler sei. Er und eine Schwester wohnen in Neuseeland. Der Bruder war auf Spurensuche in seiner alten Heimat», erzählt Heimleiter Beat Abegg. Er führte diesen zu Felix, der ihn aber nicht zu erkennen schien und keinerlei Reaktion zeigte. Von dieser Begegnung zeugt noch ein gemeinsames Foto der beiden Brüder, mehr ist von diesem Kontakt nicht geblieben. Der Heimleiter hat sich die Adresse des Bruders notiert und ist mit diesem so verblieben, dass sich das Heim bei ihm meldet, wenn mit Felix etwas passieren sollte.

Gärtner, Küchenhilfe und Dorforiginal 1947, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde das Invalidenheim Hurden von sechs Baldegger- Schwestern geführt, die sich um behinderte Frauen kümmerten. Der zurückgelassene junge Mann passte eigentlich überhaupt nicht ins Heim. Da Felix aber handwerklich begabt war, übernahm er quasi als Gegenleistung für seine Aufnahme allerlei Arbeiten in und um das Haus herum. Vor allem bei Gartenarbeiten oder für die Mithilfe in der Küche war er geeignet. Heute würde man diese Art von Zusammenleben als Win-win-Situation schildern.

Auch im Dorf war der junge Mann gut integriert. Die Kinder der Fischerfamilie Weber waren seine Spielkameraden. Bei der Fischerfamilie Braschler geht der heute 90-Jährige noch jeden Sonntag vorbei, um den Gartengrill zu kontrollieren und nötigenfalls zu putzen. Auch sonst gilt er bei der Hurdner Bevölkerung als Dorforiginal. Bei seinen ausgiebigen Spaziergängen rund um Hurden wird von ihm jede Holzbeige kontrolliert, ihm entgeht keine Veränderung.

Am Freitag war sein 90. Geburtstag Eigentlich wäre für Felix Fässler am letzten Freitag an seinem 90. Geburtstag eine kleine Dorffeier geplant gewesen. Die Corona-Krise hat der Heimleitung aber einen Strich durch das geplante Fest gemacht. «Daher freuen wir uns sehr auf den Moment, wenn er an seinem Geburtstag die Zeitung aufschlägt und sich selber darin entdeckt», fügt Abegg mit einem Augenzwinkern hinzu. Felix ist eine Leseratte, obwohl er nicht lesen kann. Sobald sein Lokalblatt ins Haus flattert, schnappt er sich als Erster die Zeitung. Er schaut sich dabei ausgiebig die Bilder an. «Vor allem Bauausschreibungen oder Pläne von Überbauungen interessieren ihn sehr», schildert der Heimleiter.

«Dä chämt nu druus»

Die Behinderung von Felix Fässler wurde als gottgegeben akzeptiert, er besuchte nie die Schule, lernte keine Gebärdensprache und wurde auch sonst nicht gefördert. Dadurch lebt der taubstumme Mann in seiner eigenen Welt, eine Verständigung mit ihm ist fast nicht möglich. Das merkt man auch an seinem Verhalten. Er verhält sich gegenüber Fremden eher skeptisch und vorsichtig. Das ist auch verständlich, denn niemand kann ihm erklären, was andere Menschen von ihm wollen. «Könnte er sprechen, hätte er ganz bestimmt viele Fragen», ist sich Beat Abegg sicher.

«Felix hat ein technisches Flair», erzählt der Heimleiter weiter. «Wenn er irgendwo einen Plan von einem Haus oder einer Strasse sieht, erwacht seine Neugierde.» Als kürzlich an der Strasse vor dem Heim gebaut wurde, stand Felix Fässler täglich bei den aufgehängten Plänen und verglich diese mit den angegangenen Arbeiten. «Der Bauleiter sagte mal zu uns: ‹Dä chämt nu druus!›» Bis zum 90. Lebensjahr gearbeitet Vor einem Jahr hat sich der betagte Mann selber pensionieren lassen. Von einem Tag zum anderen hat er für sich selbst entschieden, auf die Gartenarbeiten oder die Mithilfe in der Küche zu verzichten.

Im Alltag lebt er in der Wohngruppe Seestern mit zwölf weiteren Mitbewohnern zusammen. Er integriert sich sehr gut in die Gruppe, «er nimmt alle Mitbewohnerinnen und Mitbewohner so an, wie sie sind», schildert Schwester Jolenda seinen Charakter. «Felix ist ein gwundriger Mann, er muss sich immer alles sehr genau ansehen. Und er liebt seine Rituale. Dazu gehört der tägliche Dorfrundgang. Abends sitzt er mit dem Pyjama noch sehr gerne für eine Weile vor dem Fernseher. Auch gesundheitlich geht es dem 90-Jährigen gut. Einzig eine Arthrose in der Hüfte macht sich manchmal bemerkbar, dagegen bekommt er Schmerzmittel. Felix gehört für uns zum Inventar des Heims, wir sind zu seiner Familie geworden », fügt Schwester Jolenda wohlwollend an.

Felix Fässler zusammen mit Schwester Jolenda und Heimleiter Beat Abegg. Foto: Heidi Peruzzo

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