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Sonnenstube für einmal tabu

Sonnenstube für einmal tabu Sonnenstube für einmal tabu

So manche Einsiedler verzichten diese Ostern darauf, angesichts der Corona-Krise, ins Tessin zu fahren

Über Ostern ins Tessin – das ist geradezu ein Ritual für viele Eidgenossen. Auch für Einsiedler. Doch dieses Mal verzichten so manche auf die Fahrt in den Süden.

WOLFGANG HOLZ MAGNUS LEIBUNDGUT

An das wohltuende Plätschern des Bachs neben dem Haus seiner Schwester in Contra ob Tenero erinnert sich Sepp Kälin noch sehr genau. «Das Wasser des Bachs übertönte vor Jahren zum ersten Mal angenehm meinen Tinnitus», erzählt der 62-jährige Grosser, der in seiner Freizeit die Geschicke des FC Einsiedeln als Präsident mitbeeinflusst. «Das Tessin ist einfach eine andere Welt – man kann dort vollkommen zur Ruhe kommen und sich erholen», schwärmt Kälin.

Auch jetzt über Ostern würde sich Kälin mit seiner Frau gerne auf der riesengrossen Terrasse der von seiner Schwester gemieteten Wohnung im Tessin entspannen. Doch die derzeit sehr angespannte Epidemie-Situation des Coronavirus in der Sonnenstube der Schweiz lässt es auch für den Einsiedler unmöglich erscheinen, zum momentanen Zeitpunkt ins Tessin zu reisen.

«Wir haben es uns wirklich sehr lange überlegt, ob wir nicht doch in den Süden fahren sollten. Wir hätten das ganze Essen mitgenommen und wären nur unter uns geblieben», sagt Kälin. Doch schlussendlich hätten seine Ehefrau und er dann beschlossen, diese Ostern auf die Fahrt ins Tessin zu verzichten. «Wir bleiben lieber zu Hause – aus Solidarität gegenüber der dortigen Bevölkerung», sagt er. Das letzte Mal seien sie noch im Herbst im Tessin gewesen. Da war das Coronavirus noch weit weg. «Man muss jetzt abwarten und sehen, wie es weitergeht», meint «Tessin-Fan» Sepp Kälin.

Chalet und Alp

Auch der Einsiedler Hausarzt Gustav Farner ist seit vielen Jahren ein Tessin-Liebhaber. Er besitzt in Gordemo in Gordola, in der Nähe von Locarno, ein Rustico- Haus mit Garten – und sogar eine Alp in Mergoscia. «Für mich ist das Tessin klimatisch gesehen eine ideale Ergänzung zu Einsiedeln» beschreibt der 70-jährige Mediziner. Einsiedeln habe eben ein kaltes und raues Klima, das Tessin sei dagegen mediterran warm und mild.

«Man lebt im Tessin einfach mehr draussen in der Natur», schwärmt er. Er geht gerne wandern, fährt Velo – und arbeitet viel in seinem Garten. Deshalb sei er mit seiner Frau auch letzte Woche drei Tage lang unten im Tessin gewesen. Ein Erlebnis der besonderen, ja der gespenstischen Art. «Schon die Fahrt durch den Gotthardtunnel war speziell, weil er fast leer war», erzählt Gustav Farner. Als er dann mit seiner Frau in Bellinzona von der Autobahn abfuhr, sei er von der Polizei kontrolliert worden. «Ich habe erklärt, dass wir im Tessin ein Haus mit Garten haben, nach dem wir schauen müssen. Als ich dann noch sagte, ich sei Arzt, haben sie mich gleich weiterfahren lassen.» Er sei dann drei Tage lang zu keinen anderen Personen in Kontakt getreten, habe nichts eingekauft. «Bis auf zwei Zeitungen an einem Kiosk, die ich mit Handschuhen angefasst und mit Bancomat-Karte bezahlte», schildert Farner seine Bemühung, nicht in Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus zu geraten. Mehr Polizei, mehr Masken

«Es ist momentan schon sehr leer auf den Strassen im Tessin. Viel mehr Polizei als bei uns patrouilliert und kontrolliert das öffentliche Leben, und viel mehr Leute tragen Atemschutzmasken », beschreibt Farner die Unterschiede zwischen Einsiedeln im Cornavirus-Modus und dem Tessin. «Einerseits blüht und spriesst hier im Augenblick überall die Natur, andererseits wirkt das öffentliche Leben sehr bedrückend, ja fast wie tot.» Die Seepromenade am Lago Maggiore sei gesperrt, ebenso die Campingplätze. Die meisten Läden seien geschlossen.

An Ostern fährt er dieses Mal nun auch nicht ins Tessin. «Aus Solidarität. Und weil man dort derzeit irgendwie ein ungutes Gefühl hat», so Gustav Farner. Immer an Ostern ins Tessin

Irma Lienert reist seit über zwanzig Jahren immer an Ostern ins Tessin: In der ersten Zeit in gemietete Ferienwohnungen, seit sieben Jahren in ihre eigene Wohnung in Gordola.

«Es entspricht einer langjährigen Tradition, immer zum Osterfest mit Freunden oder der Familie ins Tessin zu reisen», berichtet die 65-jährige Einsiedlerin: «Der Grund liegt vor allem in der Witterung: An Ostern ist üblicherweise dort unten im Tessin bereits Frühling. Alles blüht, es ist wundersam.» Aber heuer ist alles anders. Irma Lienert verzichtet in diesem Jahr auf die traditionelle Fahrt in den Südkanton – obwohl die Strassen frei wären und auch die Züge fahren würden.

Obwohl es nicht verboten ist, in ihre Ferienwohnung im Tessin zu fahren, unterlässt dies Irma Lienert heuer tunlichst: «Selbstverständlich halte ich mich an den Ratschlag des Bundesrats und der Tessiner Regierung und bleibe an Ostern zu Hause.» Rücksicht auf Region nehmen

In diesen Zeiten der Corona-Krise würden es einem der Anstand und der Respekt verbieten, das bereits stark leidende Tessin noch mehr durch eine Reise zu belasten. «Ich will auch nicht das Bild der arroganten Deutschschweizer zementieren, das im Tessin zum Teil herrscht», sagt Irma Lienert: Nun gelte es erst recht, auf die stark geprüfte Region Rücksicht zu nehmen und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.

Abgesehen davon herrsche ja nun just an diesen Ostern richtiggehendes «Tessiner Wetter»: Schönster Sonnenschein und milde Temperaturen. «Da lässt es sich gut hierzulande draussen vor der eigenen Türe Sport treiben: Spazieren, Wandern, Laufen, Velofahren», schildert die Mitarbeiterin der Sport Country AG.

Und für die Wohnung von Irma Lienert im Tessin ist vorerst gut gesorgt: Eine Hauswartin schaut dort nach dem Rechten und gibt notfalls einmal den Kakteen in der Wohnung etwas Wasser.

«Wir haben es uns wirklich sehr lange überlegt, ob wir nicht doch fahren sollten.»

Sepp Kälin, Gross

«Einerseits blüht und spriesst hier im Augenblick überall die Natur, andererseits wirkt das öffentliche Leben sehr gespenstisch, ja fast wie tot.»

Gustav Farner, Einsiedeln «Ich will nicht das Bild der arroganten Deutschschweizer zementieren, das im Tessin zum Teil herrscht.»

Irma Lienert, Einsiedeln

Von einer Reise ins Tessin über Ostern ist zurzeit abzusehen. Foto: zvg

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