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«Helikopter-Eltern schaden ihren Kindern genauso»

«Helikopter-Eltern schaden ihren  Kindern genauso» «Helikopter-Eltern schaden ihren  Kindern genauso»

Basil Eckert ist Leiter der kantonalen Schulpsychologie und hat ein Team von 18 Psychologen unter sich. Trotzdem legt er viel Wert darauf, selber noch Fallarbeit zu verrichten, um zu spüren, wo der Schuh drückt. Mit Leistungsdruck und Mobbing kennt er sich aus.

SILVIA GISLER

Herr Eckert, Sie sind Leiter der kantonalen Schulpsychologie. Wie oft sind Sie in den Klassenzimmern oder an Gesprächen mit Kindern oder Eltern beteiligt? Da ich selber noch Fälle bearbeite, mache ich auch Schulbesuche, um das Kind in seinem gewohnten Umfeld zu beobachten. Auch testdiagnostische Abklärungen und Schlussgespräche sind Teil meiner normalen Arbeit. Zudem werde ich bei schwierigen Fällen von meinen Mitarbeitenden hinzugezogen. Zum Beispiel, wenn zwischen Schule und Eltern grosse Konflikte herrschen, oder Eltern mit einer Massnahme nicht einverstanden sind. Aber auch bei heiklen Themen, Rekursen oder komplexen Sonderschulfällen bin ich oft involviert. Sie sagten, sie fühlen, wo der Schuh bei den Kindern im Kanton Schwyz gerade drückt. Wo tut er dies denn? Im Kindergarten ist das angeblich zu tiefe Einschulungsalter ein grosses Thema. Das beschäftigt alle sehr und führte schliesslich auch zu einem politischen Vorstoss. Zwei Vorschläge, die beabsichtigen, das Eintrittsalter zu flexibilisieren, liegen aktuell beim Kantonsrat. Eine gute Lösung oder etwa nicht? Ich bin der Meinung, dass man das Thema falsch angeht. Man sollte nicht darüber diskutieren, wie alt die Kinder sind oder was sie bereits können, wenn sie in den Kindergarten eintreten. Wir sollten uns Gedanken machen, wie die Schule aufgestellt sein muss, um Kindern mit unterschiedlichem Reifestand ein Lern- und Entwicklungsumfeld zu bieten, in welchem sie sich gut entfalten können. Und welche Themen sind auf Primarstufe aktuell? Im Prinzip sind es die gleichen Themen. Es gibt Kinder, die in der ersten Klasse perfekt Lesen und Rechnen, andere kennen am Ende der ersten Klasse gerade mal knapp die Buchstaben. Das ist nicht einfach für Lehrpersonen. Sie fragen sich oft, wie sie alle Kinder fördern und jedem gerecht werden können.

Ich plädiere da grundsätzlich für mehr Gelassenheit. Kinder entwickeln sich sehr unterschiedlich und haben auch unterschiedliche Stärken und Interessen. Nicht alle davon werden im schulischen Setting ausreichend abgebildet.

Wie steht es mit Leistungsdruck, Überforderung oder gar Mobbing? Leistungsdruck ist ein Thema, das uns immer wieder beschäftigt. Spätestens vor dem Übertritt in die Oberstufe steigt der Druck stark an. Viele Eltern möchten, dass ihr Kind die Sek besuchen kann – aber für viele wäre das eine Überforderung. Die Real genügt nicht, die Werk ist sogar ein rotes Tuch. Das passiert aus einer Angst heraus, dass Kinder nur mit einer möglichst hohen Schulbildung ein glückliches und erfolgreiches Leben führen können. Wer oder was löst denn diesen Druck aus? Das ist eine gute Frage. Einerseits die gesellschaftlichen Entwicklungen, die mit der Akademisierung von zahlreichen Berufsausbildungen in eine falsche Richtung gehen. Andererseits die Eltern, die ja eigentlich das Beste für ihre Kinder wollen, dadurch aber unbewusst ihre Kinder unter Druck setzen. Dies kann Stress auslösen, der zu schlechten Noten bis hin zu einer generalisierten Prüfungsangst führen kann.

Aber auch die Schule hat ihren Anteil daran. Hier liegt der Fokus auf Lesen, Schreiben und Rechnen. Ein Kind, das hier Mühe bekundet, kann schnell einmal an sich zweifeln – selbst wenn es handwerklich, sozial oder gar künstlerisch begabt ist. Wer oder was ist schuld an Mobbing? Das kann man nicht so einfach beantworten. Meist sind es viele verschiedene Faktoren, die zusammenkommen: Klassenkonstellation, Gruppendynamik oder Persönlichkeitsfaktoren der Involvierten. Wichtig ist,dass man klar macht: Mobbing ist ein No-Go. Es kann Aufgabe des Schulpsychologen sein, die Situation von aussen zu betrachten und Lösungen zu finden. Sind Kinder von Alleinerziehenden oder von Doppelverdienern gefährdeter als Kinder von 0815-Familien? Nicht die Familienform, sondern vielmehr das elterliche Erziehungsverhalten, die emotionale Zuwendung und das Engagement der Eltern sind entscheidend. Eine sogenannt intakte Familie, in welcher immer gestritten wird, jemand ständig genervt oder gestresst ist, ist nicht gut. Natürlich kann es aber für Alleinerziehende herausfordernd sein, Arbeit und Kinder unter einen Hut zu bringen. Da wünschte ich mir noch mehr familienergänzende Angebote, um diese Eltern zu entlasten. Apropos Zuwendung: Kann man auch zu viel geben?

Ja, auf jeden Fall. Sogenannte Helikopter-Eltern, die ihre Kinder ständig überwachen und ihnen alle Steine aus dem Weg räumen, schaden ihren Kindern genauso wie Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen. Ein Kind muss selber Erfahrungen machen und die Welt entdecken, um dann aus Fehlern lernen zu können. Kinder brauchen Freiheiten und freie Zeit, die nicht mit Hobbys oder Förderkursen belegt ist. Auch ist es wichtig, soziale Kontakte zu pflegen, indem sie sich mit Gspändli treffen. Wer entscheidet, ob ein Kind schulpsychologisch abgeklärt wird? Häufig kommt der Vorschlag von der Lehrperson, manchmal aber auch von den Eltern. Ungefähr zwei Drittel aller Anmeldungen werden durch die Schule getätigt. Meist dann, wenn Lehrer das Gefühl haben, dass ein Kind solch grosse Schwierigkeiten hat, dass Handlungsbedarf besteht. Eine neutrale Meinung soll Klarheit bringen und Lösungen aufzeigen, damit es dem Kind wieder besser geht. Werden Eltern über den Zuzug informiert? Eine Anmeldung bei uns ist nur mit dem schriftlichen Einverständnis der Eltern möglich. Wir legen grossen Wert auf Freiwilligkeit und Transparenz. Der Datenschutz muss zudem jederzeit gewährleistet sein. Wie oft sträuben sich Eltern gegen den Zuzug einer Schulpsychologin?

Da Eltern ja für eine Anmeldung ihr Einverständnis geben müssen, kriegen wir das in der Regel gar nicht mit. Erst wenn ein Fall eskaliert, erfahren wir manchmal, dass Lehrpersonen bereits früher den Schulpsychologen einschalten wollten. Im Extremfall hat der Schulrat die Möglichkeit, gegen das Einverständnis der Eltern eine Abklärung zu verfügen. Aber seit ich im Kanton Schwyz arbeite, war dies noch nie der Fall. Haben Eltern Vorurteile gegenüber Psychologen? Ich habe das Gefühl, dass ein Umdenken stattgefunden hat. Es ist heutzutage normaler, einen Psychologen beizuziehen als früher. Manchmal verwechseln die Leute Schulpsychologie und Kinderpsychiatrie. Wir verschreiben keine Medikamente – auch kein Ritalin – und machen keine Therapien. Wir bieten Abklärungen und Beratungen an für Eltern, Lehrer oder Schüler bei schulischen oder erzieherischen Themen, und empfehlen bei Bedarf weiterführende Abklärungen, wenn wir dies als nötig erachten. Kommt es denn vor, dass Kinder übertherapiert werden? Ich bin total gegen Therapiefluten. Es ist wichtiger, gut zu überlegen, was dem Kind helfen könnte. Ein hyperaktives Kind kann zum Beispiel beim Judo lernen, wie es Energie kanalisieren und die Konzentrationsfähigkeit verbessern kann. Wenn aber niederschwellige Massnahmen ausgeschöpft sind und der Leidensdruck immer grösser wird, sind Fördermassnahmen oder Therapien wichtig. Gezielte Förderung im Frühbereich kann zudem helfen, bei Kindern mit Entwicklungsrückständen die Weichen richtig zu stellen. Was ist denn massgebend?

Der entscheidende Punkt ist der Leidensdruck des Kindes. Wenn es ständig Misserfolgserlebnisse hat, immer in Konflikte verwickelt ist und stets den Schwarzen Peter zugespielt bekommt, dann kann dies für ein Kind immensen Stress bedeuten. Wenn dieser Punkt erreicht ist, macht es Sinn, über Unterstützungsmassnahmen zu sprechen. Das können in schweren Fällen durchaus auch einmal Medikamente sein. Ich habe es schon erlebt, dass ein Kind dadurch regelrecht aufgeblüht ist. Es brachte bessere Leistungen, war konfliktfähiger und gewann massiv an Selbstvertrauen.

Gemäss meiner Erfahrung sind die Kinderärzte im Kanton Schwyz sehr zurückhaltend mit Ritalin – das ist gut so. Aber in Einzelfällen kann es durchaus eine Hilfe sein. Wie könnten Herr und Frau Schwyzer den Problemen vorbeugen?

Grundsätzlich ist es wichtig, für Kinder da zu sein, ihnen emotionale Zuwendung zu schenken, Interesse zu zeigen und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Auch Orientierung und Leitplanken braucht es – und Eltern sollten gleichzeitig auch Vorbilder sein.

Man muss aber auch das Kind loslassen, ihm etwas zutrauen, Erfahrungen ermöglichen, Freiheiten gewähren und Verantwortung übertragen. Man darf seinen Kindern altersgemässe Ämtli und Aufträge erteilen und es ermuntern, mutig zu sein. Ebenso wichtig ist es, die Stärken des Kindes wertzuschätzen, auch wenn es vielleicht nicht Lesen, Schreiben oder Rechnen ist. Denn eine ganz wichtige Botschaft ist, dass es verschiedene Wege zu einem guten Leben gibt.

«Die gesellschaftlichen Entwicklungen mit der Akademisierung vieler Berufsausbildungen gehen in eine falsche Richtung», sagt der leitende Schulpsychologe des Kantons, Basil Eckert. Foto: Silvia Gisler

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