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«Ich habe nicht das Recht, Vergeltung auszuüben»

«Ich habe nicht das Recht,  Vergeltung auszuüben» «Ich habe nicht das Recht,  Vergeltung auszuüben»

Seit drei Jahren arbeitet Hans Peter Schuler als Gefängnisseelsorger in Biberbrugg. In welcher Rolle er sich und die Kirche im Spannungsfeld zwischen Schuld, Vergebung und Resozialisierung sieht, erzählt er im Gespräch mit dieser Zeitung.

YASMIN JÖHL

Hans Peter Schuler,was braucht es, um als Gefängnisseelsorger zu arbeiten? Wenn man ein höheres Arbeitspensum hat oder in mehreren Gefängnissen angestellt ist, eignet sich sicher eine vertiefte Ausbildung zum Gefängnisseelsorger. Weil mein Vater als Richter und Jurist arbeitete, war das Thema Recht und Gerechtigkeit bei uns zu Hause immer aktuell. Die praktische Ausbildung kommt bei mir also erst jetzt. Suchen denn die Gefangenen aktiv das Gespräch mit Ihnen? Die Betreuer – ich sage bewusst nicht «Wärter» – machen mich auf jene Gefangenen aufmerksam, bei denen ein Besuch angezeigt wäre. Einzelne Gefangene wünschen mit der Zeit ausdrücklich den Besuch des Seelsorgers. Denken Sie, es hat mit der Kirche zu tun, dass die Gefangenen eher selten auf Sie zukommen?

Das Bedürfnis der Gefangenen ist unabhängig von der Einstellung zur Kirche gross. Trotzdem ist ein enormes Vertrauen notwendig … Nur schon, dass die Gefangenen mich in ihre Zelle lassen, zeugt von Vertrauen. Aber auch vonseiten des Betreuungspersonals spüre ich Vertrauen. Häufig komme ich in der Cafeteria mit ihnen ins Gespräch. Da haben dann auch persönliche Fragen ihren Platz.

«Ich bin keiner Partei verpflichtet. Ich bin einfach jemand, der wirklich nur zuhört.»

Wie beginnen Sie ein Gespräch?

Das ist ganz unterschiedlich. In den vier Wänden des Gefangenen sehe ich oftmals Fotos oder Zeichnungen. Vor allem bei Gefangenen, die ich zum ersten Mal sehe, sind genau diese persönlichen Dinge wichtige Anhaltspunkte. Sehr oft beginnen die Gefangenen aber auch selbst zu sprechen. Und welche Themen sind dann zentral? Es beginnt immer bei der Vergangenheit. Es liegt dann aber nicht an mir, abzuschätzen, was stimmt und was nicht, sondern eher, was sie damit andeuten wollen. Oft ist es auch eine Überforderung, die ich spüre. Der Gefangene ist in der Zelle und kann nur beschränkt mit seiner Familie und seinen Kindern kommunizieren, das ist dann ebenfalls ein Gesprächsausgangspunkt. Ist es mehr ein «Plaudern» oder geht es auch darum, konkret ein Problem zu lösen?

Ein Problem zu lösen, ist der zweite Teil. Sobald ich weiss, wie die Situation im Moment ist, stellt sich die Frage «Wie weiter?». Dann bin ich allerdings nur ein kleines Rad am Wagen. Ich kann dann höchstens beratend zur Seite stehen und ihnen Mut machen. Aber für konkrete Lösungen nach der Entlassung sind andere Institutionen zuständig. Es sind also sehr viele Parteien involviert – Staatsanwaltschaft, Anwalt, Familie – in welcher Rolle sehen Sie sich? Das ist das Schöne an meiner Arbeit. Ich gehe als neutrale Person, ich bin keiner Partei verpflichtet. Ich bin nicht der Staatsanwalt, der die Ermittlungen führt. Ich bin auch nicht der Anwalt, der die Klienten verteidigt. Ich bin einfach jemand, der wirklich nur zuhört. Und dieses Bedürfnis ist enorm stark, dass einfach jemand da ist, mit dem sie sprechen können. Das klingt nach einer grossen Dankbarkeit… Dankbarkeit spüre ich auf jeden Fall, ja. Werden Sie darüber informiert, weshalb der Häftling im Gefängnis ist? Von aussen werde ich nicht informiert. Das Betreuungspersonal teilt mir höchstens ihre Sorge mit, dass es einer gefangenen Person nicht gutgeht. Die Diskretion ist oberstes Gebot – das weiss ich. Können Sie unvoreingenommen eine Zelle betreten, ohne über die Tat Bescheid zu wissen? Es wäre schlecht, wenn ich die Tat im Voraus wüsste. Ansonsten würde ich bereits urteilen, ob ich will oder nicht. Hingegen wenn ich den Gefangenen höre, dann hat es verschiedene Facetten. Fühlen Sie sich wohl in der Zelle, immerhin könnten Sie einem Mörder gegenübersitzen? Ich habe noch nie Angst gehabt. Aber ich bin auch nicht 24 Stunden in der Zelle. Ich bin in einer anderen Situation – in einer privilegierten. Und trotzdem: Die Zeit, die ich in der Zelle verbringe, ist nie eine Belastung für mich. Das hat vielleicht mit meiner Person zu tun. Als Theologe war ich immer jemand, der sich am Rand bewegt hat. Mir wurde oft gesagt, dass sich Jugendliche doch nicht für die Kirche interessieren. Das war aber spannend für mich. Es ist mir eher um Wertvermittlung gegangen als darum, die Kirche zu vertreten oder zu verteidigen. Das macht den Job zur Berufung.

«Es geht mir nicht darum, die Kirche zu vertreten oder zu verteidigen, sondern um Wertvermittlung. »

Berufung inwiefern?

Jeder Arbeitsbereich in der Pflege oder in der Kirche ist per se eine Berufung. Aber ich kann eben nicht halb Gefängnisseelsorger sein, ein halber Ehemann oder Diakon. Es geht nicht halb, das ist für mich Berufung – voll und ganz dahinter zu stehen. Apropos Schweigepflicht: Gibt es Situationen, wo Sie das Gefühl haben, das müssten Sie weiterleiten? Es gibt nur eine – bei Suizidgefahr. Und dann sage ich immer den gleichen Satz zum Betreuungspersonal: «Heb mir Sorge zu diesem Gefangenen.» So spüren sie, dass ich Respekt habe und merke, wie schlecht es dem Gefangenen geht. Spielt denn der Glaube in den Gesprächen eine Rolle? Er spielt eine grosse Rolle. In vielen Zellen sehe ich bei Muslimen einen Koran, bei westlichen Gefangenen eine Bibel. Glaube und Kirche sind aber zu trennen. Obwohl mir viele sagen, dass sie mit Kirche nicht viel am Hut haben, führen wir danach ein hochkarätiges Glaubensgespräch. Die Kirche als Institution ist für die Insassen einfach zweitrangig. Kommt es vor, dass Gott die Schuld gegeben wird oder die Frage «Wieso ich?» auftaucht? Die Frage «Wieso ich?» ist eine uralte Menschheitsfrage und kommt immer wieder. Ich stelle aber fest, dass viele sagen, ich weiss, warum ich hier bin. Sie machen also nicht Gott verantwortlich, sondern sich selbst. Aber die Erkenntnis, dass sie selbst den ersten Schritt tun müssen, die kommt auf den Stand darauf an, wo sie im Verarbeitungsprozess stehen.

Inwiefern kommt das Thema Schuld und Vergeben in Ihren Gesprächen oder allgemein im Gefängnis zum Tragen? Das ist etwas sehr Wesentliches. Grundsätzlich bin ich loyal in diesem Betrieb. Ich kann den Justizvollzug oder die Art und Weise, wie das Gefängnis geführt wird, hinterfragen, aber nicht hintergehen. Hingegen glaube ich, dass unsere Gesellschaft einen gefährlichen Wandel durchmacht. Ich wurde von meinem Vater noch gelehrt, dass ein Teil der Justiz die Strafe ist. Also, dass ich für meine Taten geradestehen muss. Die Strafe muss oder sollte aber zweitens zu sogenannter Resozialisierung führen, sprich der Gefangene hat das Recht, von der Gesellschaft wieder aufgenommen zu werden. Und ich würde anstelle von Resozialisierung von Versöhnung oder Vergebung sprechen.

«Unsere Gesellschaft macht einen gefährlichen Wandel durch.»

Was meinen Sie mit einem «gefährlichen Wandel»?

Ich glaube, dass das Klima im Gefängnis rauer und die Betreuung anspruchsvoller geworden ist. Ich verstehe das Betreuungspersonal, welches 24 Stunden um die Gefangenen ist, das ist ein anspruchsvoller Beruf. Zachäus der Sünder, der von Jesus besucht wird – es scheint, dass manche Bibelstellen für die Menschen im Gefängnis geschrieben wurden … Ich habe wenige Gefangene, die auf dieser Ebene sprechen. Aber die Aussage «Jesus wäre in deine Zelle gekommen» hat für mich etwas sehr Wesentliches. Sie ist der Angelpunkt meiner Arbeit. «Steh auf und geh weiter» – so ermutige ich die Gefangenen. Ist Ihnen in diesem Spannungsfeld auch die Opfer-Rolle bewusst?

Ja absolut. Es kann sein, dass die Täterseite und dessen Resozialisierung in der Seelsorge zu stark gewichtet wurden und die Opferseite vergessen ging. Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Arbeit etwas bewirken können? Es ist eine der sinnvollsten Aufgaben in der Seelsorge. Einen Nutzen kann ich statistisch kaum nachweisen – Statistiken können vielleicht die Anzahl der Gespräche erfassen. Ich verzichte darauf. Nicht selten stellt sich der Nutzen dann ein, wenn man ihn nicht erwartet. Was berührt Sie am meisten?

Das sind Situationen, in denen ich keine Worte mehr finde, weil der Rucksack so schwer ist, den der Gefangene zu tragen hat. Sätze wie «Die Zeit heilt alle Wunden» habe ich schon immer gehasst. Das auszuhalten, was mein Gegenüber aushalten muss, das ist sehr schwierig. Wie stehen Sie zum Thema Todesstrafe?

Ich bin ein absoluter Gegner. Ich bemühe mich da einer Statistik: Überall dort, wo es die Todesstrafe gibt, konnten die Gewaltverbrechen nicht eingedämmt werden. Ich habe im Gefängnis eine gewisse Naivität verloren. Ich höre heute genauer hin. Aber Todesstrafe, nein. Ich habe nicht das Recht, Vergeltung auszuüben.

Gelingt es Ihnen, die Geschichten hinter den Gefängnismauern zu lassen und nicht mit nach Hause zu nehmen? Ganz gelingt es mir nicht. Aber ich bin dabei, zu lernen, dass ich alles, was in der Zelle passiert, verarbeiten und stehenlassen kann. Dazu braucht es auch professionelle Hilfe in Form eines Supervisors, mit dem ich mich austausche und bespreche.

«Das Thema Religion spielt auch hinter den Gefängnismauern eine grosse Rolle», so Hans Peter Schuler. Foto: Yasmin Jöhl

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