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Der Einsiedler liebste Messe

Der Einsiedler liebste Messe Der Einsiedler liebste Messe

Zum 200. Geburtstag von Karl Kempter, dem Komponisten der «Läbchüälimäss»

PATER LUKAS HELG

In der Einsiedler Klosterkirche, aber auch in den Kirchen der Viertel wie übrigens auch in sehr vielen anderen Kirchen unseres Landes und im angrenzenden Ausland gehört eine der beiden Pastoralmessen von Karl Kempter seit mehr als 100 Jahren so fest zu Weihnachten wie der Christbaum und die Krippe. Ihr Komponist feiert in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag. Grund genug, sich in Dankbarkeit an ihn zu erinnern.

In Limbach, einer kleinen Ortschaft im Landkreis Günzburg zwischen Ulm und Augsburg, wurde er am 17. Januar 1819 geboren. 117 Jahre früher kam im nahe gelegenen Jettenbach ein anderer Komponist zur Welt, der später in Salzburg Karriere machen sollte, Johann Ernst Eberlin (1702–1762).

Domorganist und Domkapellmeister Karl Kempter, Sohn ein Lehrers und Organisten, wurde bereits mit 20 Jahren Domorganist in Augsburg. Diesen Posten versah er 25 Jahre lang. Im Jahre 1865 wurde er als Nachfolger von Johann Michael Keller zum Augsburger Domkapellmeister berufen. Leider blieben ihm nur 6 Jahre in diesem Amt. Bereits 1867 erlitt er einen Schlaganfall. Zwei Jahre später starben seine erst 53-jährige Frau und sein Schwager, 1870 gar eine seiner drei Töchter im Alter von nur 33 Jahren.

Die letzten Lebensjahre Kempters waren durch körperlichen und geistigen Kräftezerfall geprägt. Der Komponist starb erst 52-jährig am 12. März 1871 in seiner Wohnung am Stephansplatz 9 in Augsburg. Er hinterliess einen Sohn, der bereits 1873 sterben sollte, und eine weitere Tochter. Eine dritte Tochter war kurz nach der Geburt gestorben.

Umstrittener Komponist

Karl Kempter komponierte vor allem Kirchenmusik. Unter seinen etwa 150 Werken befinden sich 38 lateinische Messen. Zwei Weihnachtsmessen wurden international bekannt, die Pastoralmesse in G op. 24 aus dem Jahre 1851 und die Missa pastoritia in C op. 114 von 1861, welche bei uns in Einsiedeln «Läbchüälimäss » genannt wird. Vor allem die erstgenannte Pastoralmesse in G op. 24 fand allergrösste Verbreitung in Süddeutschland, in Österreich und in der Schweiz. Was die Schweiz betrifft, dürfte die Verbreitung von Kempters Werken vom Kloster Einsiedeln ausgegangen sein, zu welchem Karl Kempter im persönlichen Kontakt stand.

Die Kompositionen von Karl Kempter waren von Anfang an umstritten. Vielseitiger Anerkennung stand massive Kritik vor allem durch die Cäcilianer um Franz Xaver Witt gegenüber. In der Augsburger Postzeitung wurde am 23. März 1848 ein Ausspruch eines anonymen «vorurteilsfreien Kunstkenners» zitiert: «Wenn die Kompositionen des ebenso bescheidenen als talentvollen Karl Kempter in weiteren Kreisen einmal gekannt und gewürdigt sind, wird man nach ihnen ein Verlangen äussern wie nach den Tonwerken eines Mozart, Haydn und Schnabel.» Papst Pius IX. ernannte Karl Kempter zum Ehrenmitglied der päpstlichen «Akademie St. Cäcilia» in Rom.

Heftige Kritik kam aus den Reihen der Cäcilianer. Ziel der cäcilianischen Bewegung war die Rückbesinnung der Kirchenmusik auf die altklassische Vokalpolyphonie eines Palestrinas im Gegensatz zum verweltlichten Kirchenstil des 18. und 19. Jahrhunderts. Zu den unkirchlichen Kirchenkomponisten rechneten die Cäcilianer die Messen von Mozart und Haydn, aber auch jene der Augsburger Domkapellmeister Bühler, Witzka und vor allem Kempter. Franz Xaver Witt, der führende Kopf des Cäcilianismus, griff Karl Kempter frontal an und nannte ihn einen «Sudler und Sünder». Ein paar Jahre früher hatte er in seiner Zeitschrift den Einsiedler Klosterkomponisten Pater Anselm Schubiger aufgrund seiner süsslichen Marienlieder als «Süssholzraspler » betitelt. Witts eigene Musik ist heute vergessen, Kempters und Schubigers Werke haben bis heute überlebt. Ein Oratorium für Einsiedeln

Im Jahr 1861 feierte man in Einsiedeln den 1000. Todestag des heiligen Meinrad. Für diesen Anlass komponierte Karl Kempter das Oratorium «Maria, die Mutter des Herrn». Das Textbuch schrieb der Einsiedler Konventuale Pater Gall Morel (1803– 1872). Das Oratorium gliedert sich entsprechend den Geheimnissen des Rosenkranzes in drei Teile: Jugendgeschichte Jesu – Leiden und Auferstehung Jesu – Vollendung des grossen Gotteswerkes, wobei stets die Beziehung zu Maria im Mittelpunkt steht. Das Oratorium lehnt sich in Aufbau und Inhalt stark an Händels Messias an, nur werden Geburt, Auferstehung und Vollendung Jesu mit biblischen Szenen über Maria verbunden und von ihrer Warte aus geschildert. Das Werk war zwar während der Tausendjahrfeier bereit zur Aufführung, wurde aber «wegen gehäufter, anderweitigen Arbeiten» erst im November 1861, ausserhalb des offiziellen Festprogramms, in Einsiedeln uraufgeführt.

Karl Kempter stand seit 1858 mit Pater Gall Morel in brieflichem Kontakt. In den Jahren 1860 und 1861 weilte er jeweils über das Fest der Engelweihe in Einsiedeln. Auffallend ist, dass in Einsiedeln nur noch das Textbuch von Pater Gall Morel vorhanden ist, nicht aber die Musik weder im Autograph noch in Abschriften. Für das Jahr 1862 sind zwei Aufführungen dieses Oratoriums in Deutschland bezeugt, eine am 9. März in Augsburg im Saal zur goldenen Traube und eine am 17. Juli im Schullehrer-Seminar Lauingen, wo Friedrich Kempter, ein Bruder des Komponisten, als Musiklehrer tätig war. Ein Sohn dieses Bruders war übrigens Lothar Kempter (1844–1918), der in den Jahren 1875 bis 1915 das Opernorchester in Zürich leitete und für viele Schweizer Erstaufführungen von Wagners Musikdramen verantwortlich war. Karl Kempter komponierte noch ein zweites Oratorium nach einem Textbuch von Pater Gall Morel, «Johannes der Täufer». Es ist wiederum gleich aufgebaut und besteht wie «Maria, die Mutter des Herrn» aus 14 Nummern. Die drei Teile sind überschrieben mit «Tempel und Vaterhaus», «Predigt und Taufe» sowie «Kerker und Palast». In diesem dritten Teil gibt es einen Triumphund einen Trauermarsch, die Kempter später im Klavierauszug drucken liess. Das Oratorium «Johannes der Täufer» wurde am 26. Oktober 1863 im Städtischen Tanzhaus von Donauwörth uraufgeführt und später in Augsburg zweimal wiederholt. Von einer Aufführung in Einsiedeln ist nichts überliefert.

In der Musikbibliothek des Klosters befindet sich ausschliesslich das Textbuch. In einem Brief vom 7. Mai 1872, ein Jahr nach Kempters Tod, schrieb der Augsburger Antiquitätenhändler Fidel Butsch an den Abt von Kremsmünster, er habe «die Originalpartituren und ausgeschriebene Sing- und Orchesterstimmen » der beiden grossen Oratorien aus Kempters Nachlass erworben. Sie seien zu haben, «beide Werke für 150 Gulden süddeutsche Währung. Nicht teuer, aber eben doch viel Geld». Es ist nicht bekannt, ob Kremsmünster das Material gekauft hat, ebenso wenig, wo es sich heute befindet. Übrigens war Pater Gall Morel im Mai 1856 zu Besuch bei Fidel Butsch und kaufte bei ihm neben einem autografen Brief von Goethe und Schiller ein Skizzenblatt von Mozart zum alternativen Andante der Pariser Sinfonie.

Kempter-Rezeption in Einsiedeln Im Kloster Einsiedeln war in den Jahren 1859 bis 1879 mit Pater Clemens Hegglin (1828–1924) ein überzeugter Cäcilianer im Amt des Kapellmeisters. Möglicherweise trägt er die Verantwortung, warum das Oratorium «Maria, die Mutter des Herrn» nicht in Gegenwart Kempters uraufgeführt wurde, sondern erst im November, als der Komponist bereits wieder abgereist war. Es ist kaum denkbar, dass Pater Clemens Hegglin als fanatischer Anhänger Witts (ausser diesem genannten Oratorium) jemals ein Werk Kempters in Einsiedeln aufgeführt hat.

Am 4. November 1879 erhielt er in Pater Urs Jecker (1839– 1882) einen Nachfolger als Kapellmeister. Es ist äusserst auffällig, dass der neue Kapellmeister bereits am bevorstehenden Weihnachtsfest 1879 gleich beide weiter oben erwähnten Pastoralmessen von Kempter zur Aufführung brachte, die Missa pastoritia in C op. 114 in der Mitternachtsmesse und die Pastoralmesse in G op. 24 am Weihnachtstag – eine Tradition, wie sie in Einsiedeln seit 2002 wieder besteht. Seit 1879 gibt es eine ununterbrochene Einsiedler Tradition, welche durch die Aufzeichnungen der jeweiligen Kapellmeister belegt ist, dass an Weihnachten immer eine oder gar beide Pastoralmessen von Karl Kempter gesungen wurden. Seit 1900 kam der Weihnachtshymnus «Christe redemptor» von Pater Basil Breitenbach zum jährlich gleichbleibenden kirchenmusikalischen Programm dazu.

Pater Oswald Jaeggis «Tempelreinigung»

So blieb es bis ins Jahr 1947. Am 2. Oktober dieses Jahres wurde Pater Oswald Jaeggi als Nachfolger von Pater Otto Rehm zum Kapellmeister ernannt. Am folgenden Weihnachtsfest kam es zu einer Art «Tempelreinigung». Pater Oswald schrieb im Kapellmeisterbuch: «An dieser Weihnacht soll endgültig aufgeräumt werden mit der herkömmlichen unwürdigen und liturgiefremden ‹Weihnachts›-Musik (Guilmant, Kempter, Breitenbach…)». Stattdessen liess er die Messe «Zu Bethlehem geboren» von Pater Otto Rehm und die Motette «Resonet in laudibus» von Jacobus Gallus singen. Offenbar gab es nachher Proteste aus den Reihen der Gottesdienstbesucher.

Diese kamen dem damaligen Abt Benno Gut beim jährlichen Neujahrstrunk der Musikgesellschaft Konkordia zu Ohren. Der Abt versprach den Einsiedlern für nächstes Jahr wieder die «Läbchüälimäss». Tatsächlich kam es auch so. Pater Oswald Jaeggi war kurz vor Weihnachten 1948 nach Sonvico verreist. Doch an Weihnachten 1949 war er wieder zurück und liess im Mitternachtsgottesdienst die Cäcilienmesse und die Motette «Laetentur coeli» von Otto Jochum singen. Das Schweizer Radiostudio Zürich übertrug den Gottesdienst ins ganze Land. Von Protesten ist nichts bekannt. Oder etwa doch? Pater Oswald Jaeggi schrieb am Ende des Jahres 1949 einen Satz aus einer Weihnachtspredigt von Papst Leo dem Grossen ins Kapellmeisterbuch: «Gaudeat peccator, quia invitatur ad veniam » («Der Sünder soll sich freuen, weil er zum Verzeihen eingeladen wird»). Tatsache ist, dass Pater Oswald nach Weihnachten nicht mehr Kapellmeister war. Er lebte zuerst kurze Zeit im Kloster Hauterive, um später im Kloster Muri-Gries im Südtirol als berühmter Kirchenmusiker und Komponist mit internationaler Ausstrahlung zu wirken. Durchaus möglich, dass das erneute Absetzen der bei den Einsiedlern hochgeschätzten Weihnachtsmusik beim guten Abt das Fass zum Überlaufen brachte.

Kempters Rehabilitierung Am 2. Januar 1950 wurde Pater Daniel Meier Jaeggis Nachfolger und war bis Juli 1976 Kapellmeister. Leider hat er nur ein Jahr lang im Kapellmeisterbuch aufgeschrieben, was jeweils aufgeführt wurde. So ist von ihm selber nur die Kirchenmusik von Weihnachten 1950 festgehalten. Er kehrte zur «Läbchüälimäss » und zu Breitenbachs Weihnachtshymnus «Christe redemptor » zurück. Für die folgenden Jahre existieren leider keine Aufzeichnungen. In den Jahren 1956 und 1957 führte Pater Roman Bannwart das Aufführungsverzeichnis weiter. Darin erfahren wir, dass in diesen zwei Jahren Kempter und Breitenbach in einer Männerchorfassung gesungen wurden. Die Dorfkinder waren also nicht mehr dabei. Dann folgt eine weitere Lücke bis zum Kirchenjahr 1963/1964. Damals begann Pater Kanisius Zünd seine mit vielen interessanten Bemerkungen versehenen Aufzeichnungen der aufgeführten Kirchenmusik. Fazit: In den Jahren 1963 bis 1970 wurden mit einer einzigen Ausnahme jeweils an Weihnachten weder eine Kempter-Messe noch der Weihnachtshymnus von Breitenbach gesungen, sondern eine der Männerchor-Messen aus dem Repertoire (Kromolicki, Refice, Asola, Piechler und Wiltberger). Zur Ausnahme: An Weihnachten 1969 liess Pater Daniel den Weihnachtshymnus wieder singen. Pater Kanisius notiert augenzwinkernd im Kapellmeisterbuch: «Das Offertorium wurde Pater Daniel anlässlich des guten Nachtessens im Krankenhaus (Weihnachtsfeier) abgerungen! Es fand viel Anklang!» In jenen Jahren war es Brauch, dass der Kapellmeister mit einer kleinen Gruppe von singenden und spielenden Mitbrüdern vor Weihnachten im Einsiedler Spital musizierte und anschliessend mit einem feinen Nachtessen verwöhnt wurde. Ich habe das selber erlebt und später als Kapellmeister diesen Auftritt mit einem Weihnachtsspiel erweitert. Als Spielerinnen traten die damals noch im Spital wirkenden Ordensschwestern in Aktion. Im folgenden Jahr 1970 sang man den Hymnus nicht mehr. Aber seit dem Jahr 1971 bis 1975 führte Pater Daniel jeweils in der Mitternachtsmesse die altvertraute «Läbchüälimäss » und das «Christe redemptor » wieder auf – und zwar sehr bemerkenswert in der Originalversion für gemischten Chor. Es war also seit 1971 wieder wie früher eine Gruppe von Schulkindern aus dem Dorf Einsiedeln dabei.

Karl Kempter konnte im Jahr 2019 seinen 200. Geburtstag feiern.

Die Partitur der Violinstimme der in Einsiedeln gern und oft gehörten «Läbchüälimäss». Fotos: zvg

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