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«Viel Vermögen kann Versuchung sein»

«Viel Vermögen kann Versuchung sein» «Viel Vermögen kann Versuchung sein»

Zwischen heiler Welt und Strukturschwäche: Eine Dorfreportage aus Rothenthurm

In Rothenthurm wohnen laut der jüngsten Steuerstatistik des Kantons Schwyz die drittmeisten Vermögenslosen. Wie lebt es sich im «Armenhaus» oben im Moor? Ganz angenehm – wie ein Augenschein zeigt.

WOLFGANG HOLZ

Die Schrift auf dem Dach der Pfarrkirche in Rothenthurm prangt wie ein riesiger Werbespruch am Horizont: «Sanct Antonius bitt für uns» entziffert der Neuankömmling die weissen Buchstaben auf den Ziegeln in luftiger Höhe – auf denen schon der erste Schnee liegt. Ein Manifest der Armen, das quasi wie ein Motto über dem 2400-Seelendorf zu schweben scheint?

Schliesslich leben hier in dem Dorf auf dem Hochmoor laut der jüngsten Steuerstatistik des Kantons Schwyz die meisten «Vermögenslosen» in der Region Einsiedeln und die drittmeisten im Kanton. Konkret heisst das: 67,4 Prozent der Steuerzahler in Rothenthurm zahlen keine Vermögenssteuer, weil sie offenbar kein entsprechendes Vermögen besitzen. Nur in Schübelbach und in Arth wohnen noch mehr Vermögenslose im Kanton Schwyz.

«Geld einfach versteckt» «Es gibt hier in Rothenthurm sicher noch den einen oder anderen Bauer, der seine Habe einfach versteckt», kommentiert scherzhaft einer der drei jungen Männer in der Gaststube des «Ochsen » den neuesten statistischen Befund.

Es ist Mittag. Einige Plätze in der Beiz sind noch frei. Die Wirtin hat gerade köstliche Knöpfli mit Steinpilzsauce inklusive Tomatensuppe als Vorspeise für 17,50 Franken aufgetischt. Zum Nachtisch kredenzt sie generös noch einen Tupfer Sahne mit einer kleinen Crêpe. «Das letzte Mal wurden wir in den Statistiken erwähnt, weil es bei uns schweizweit die wenigsten Grünen-Wähler gibt», erklärt sein Tischnachbar.

Aber mal ehrlich: Verfügen die Drei denn selbst über Vermögen oder sind sie womöglich auch vermögenslos – wie besagte 67,4 Prozent? Der eine meint, er verfüge über «ein bizzli », der Zweite grinst vielsagend, der Dritte räumt ein, dass er ein kleines Haus besitze. Alle sind bestens gelaunt, und es scheint allen gut zu gehen. «Rothenthurm ist nicht arm»

«Das Leben in Rothenthurm ist nicht schlecht», sagt der Dritte und fängt an aufzuzählen. Es gebe eine Primarschule, einen Kindergarten, ein Hallenbad und sogar eine Oberstufe. «Neuerdings ist eine Kindertagesstätte eröffnet worden», ergänzt der andere. Da sei auch die Viehvermarktungshalle, in der viele kulturelle Events stattfinden», erklärt der Erste. Man habe einen eigenen Skilift, zwei Metzgereien. Und man bekomme alles für den täglichen Bedarf in der Bäckerei an der Strasse, ein Stück weiter unten – im Volg-Laden – der sogar sonntags geöffnet sei.

Liter Benzin: 1,46 Franken

«Rothenthurm ist nicht arm. Es fehlt eigentlich an nichts», sagt der Hausbesitzer. «In einer Viertelstunde sind wir mit dem Auto überall» – und ergänzt sich im selben Atemzug: Ja, wenn es in Rothenthurm wirklich allerdings etwas brauche, dann ein Auto. Der Blick durchs Fenster auf die andere Strassenseite beweist: Die Autofahrer haben es echt nett hier: Ein Liter Benzin bleifrei an der Tankstelle gegenüber kostet nur 1,46 Franken. «Verkehr gibt es allerdings tatsächlich etwas zu viel in Rothenthurm », relativiert er noch.

«Die Situation ist eben wie sie ist», hört sich Rothenthurms Gemeindepräsident Stefan Beeler etwas nüchterner an. Er erklärt sich die grosse Zahl von Vermögenslosen in seiner Gemeinde einerseits durch die «nicht allzu vielen Wohnungseigentümer». Und tatsächlich: Ein Plakat an einer nigelnagelneuen Fünfeinhalb- Zimmer-Wohnung direkt an der Strasse wirbt um einen Käufer. Zudem seien die Gebäudeschätzungen aufgrund der Lage an der Kantonsstrasse und der SOB-Linie nicht so hoch. Andererseits gebe es noch zehn Prozent Landwirte in Rothenthurm: «Und die sind ja meist nicht so vermögend», so Beeler. Auch die Einkommen im Dorf seien nicht so hoch. Es gebe im Vergleich zu früher deutlich weniger Arbeitsplätze im Dorf. Die Schliessung von zwei grossen Möbelfabriken habe die Gemeinde noch nicht wettmachen können. Und potente Steuerzahler würden sich wegen des hohen Steuerfusses nicht hierher verirren.

«Menschen helfen sich in Not»

«Früher, vor 50, 60 Jahren, war Rothenthurm wirklich noch ein ganz armes Dorf», relativiert der Gemeindepräsident. Inzwischen erhalte man jährlich 4,25 Millionen Franken aus dem kantonalen Finanzausgleich, und nicht sehr vermögende Zuzüger aus dem Gebiet March/Höfe kämen nach Rothenthurm, weil so mancher sich im Tal die gestiegenen Mieten nicht mehr leisten könne. «Ansonsten herrscht hier oben noch viel heile Welt. Das Dorfleben klappt gut. Es gibt 40 Vereine, man hilft sich hier gegenseitig, und alles ist noch nicht so urban», schwärmt Beeler. An der Primar- und Oberstufenschule gebe es zum Beispiel keine Drogenprobleme.

Auch Pfarrer Erich Camenzind kann bestätigen, dass Armut in Rothenthurm kein sichtbares Problem sei. «Selten sind bis jetzt Kirchgemeindemitglieder auf uns zugekommen, um uns um Geld aus der Antoniuskasse zu bitten», sagt der Dorfpfarrer Rothenthurms, das zu 92 Prozent katholisch ist. Allerdings könne es sein, dass die Hemmschwelle in einem Dorf grösser sei, solche finanzielle Hilfe in Anspruch zu nehmen – «weil sich eben alle kennen». Dabei sei die Antoniuskasse durchaus auch für finanzielle Härtefälle im eigenen Dorf gedacht.

Auch bei den kirchlichen Kollekten sei kein Rückgang wegen vieler Vermögensloser im Dorf festzustellen: «Klar, werden die Beträge weniger, aber das liegt vor allem daran, dass weniger Menschen in die Kirche gehen.» Die St.-Antonius-Kirche – die fast Ausmasse einer Basilika aufweist –, sei wegen ihrer weithin sichtbaren Fürbitte an den Heiligen auf dem Dach über die Region hinaus bekannt. «Unsere Bitte ist geistig und materiell gemeint.» Laut dem Rothenthurmer Pfarrer haben auch Jesus und seine Apostel über Vermögen verfügt. Menschen bräuchten Materielles für ihren Lebensunterhalt. «Das ist ein Menschenrecht. » Jesus habe aber allerdings auch vor zu viel Besitz und Reichtum gewarnt, so Camenzind. «Viel Vermögen kann auch eine Versuchung sein.» Eine Versuchung, die einen weg vom Glauben führen könne – im Glauben daran, sich alles leisten zu können und keinen Gott mehr zu brauchen. Camenzind ist überzeugt: «Notfalls helfen sich die Leute hier in Rothenthurm gegenseitig.»

«Ansonsten herrscht hier oben noch viel heile Welt. Das Dorfleben klappt gut. Es gibt 40 Vereine, und alles ist noch nicht so urban.»

Stefan Beeler, Gemeindepräsident

Der Radarblitzer zeigts an: Es gibt sehr viel Verkehr im Dorf. Zu viel.

Direkter Draht zum Himmel: Der heilige Antonius hilft immer.

Rothenthurm hat viele Gesichter – nicht nur Vermögenslose wohnen hier. Fotos: Wolfgang Holz

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