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Ermutigung, nicht zu vergessen

Ermutigung, nicht zu vergessen Ermutigung, nicht zu vergessen

Lukas Bärfuss konnte in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis entgegennehmen

Am Samstag wurde im Staatstheater Darmstadt dem Autor des Welttheaters 2020, Lukas Bärfuss, der Georg-Büchner- Preis verliehen. Es ist dies die renommierteste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur.

WALTER KÄLIN

Isabelle Chassot, die Direktorin des Bundesamtes für Kultur, vertrat die offizielle Schweiz. Die Laudatio hielt Judith Gerstenberg, mit der Bärfuss in Basel und Zürich zusammengearbeitet hat und die nun auch in Einsiedeln seine Dramaturgin ist.

«Zuversicht und Hoffnung» «Das Geschenk, für das ich Ihnen von Herzen danke, heisst Ermutigung, es heisst Zuversicht und Hoffnung.» Mit diesen Worten schloss der Preisträger seine Dankesrede. Auch das Publikum, das der Einladung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an ihre Herbsttagung gefolgt war, konnte sich bei Lukas Bärfuss für Ermutigung bedanken. Er ermutigte seine Zuhörerinnen und Zuhörer, nicht zu vergessen: «Falls man dem Menschen die Möglichkeit geben will, aus der Geschichte zu lernen, wäre doch die erste Voraussetzung, dass er sich dieser Geschichte erinnert. Aber leider vergisst er so leicht und oft vergisst er gerade die entscheidenden Lektionen.» So habe er selber zum Beispiel vergessen, sagte Bärfuss weiter, dass es so etwas wie eine Entnazifizierung gar nicht gegeben habe. Sie seien nicht plötzlich wieder da, die Nazis. Ihr Gedankengut und sie selbst seien überhaupt nie weg gewesen. Jetzt, wo die letzten Zeugen der nationalsozialistischen Gräueltaten verschwinden, sei es an seiner Generation, die Erinnerung lebendig zu halten: «Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.» Sein Werk sei in weiten Teilen ein Zeugnis für die menschliche Niedertracht und Grausamkeit: «Ich bin ein Schriftsteller aus dem Europa des 20. Jahrhunderts, und welchen Faden ich auch immer aufnehme, hinter der nächsten oder spätestens der übernächsten Ecke führt er zu einem Massengrab.» Nach dem Mauerfall vor ziemlich genau 30 Jahren, der wie ein Wunder gewirkt habe, und dem grausamen Kontrast mit dem Krieg in Jugoslawien kurze Zeit später habe sich ihm die Frage gestellt, wie dies alles habe geschehen können und was denn eigentlich mit diesem Europa das Problem sei. «Und dort bin ich geblieben, dort bin ich noch immer. Diese Frage hat mich gebildet, ihr fühle ich mich verpflichtet. Und dass ich hier stehe heute, auf dieser Bühne, das habe ich dem 20. Jahrhundert zu verdanken.» «Es braucht keine Chirurgen»

Diese Frage verbinde ihn auch mit Georg Büchner. In dessen Drama «Dantons Tod» will der Revolutionär Georges Danton wissen, was es denn sei, das in uns lügt, stiehlt, hurt und mordet, um so eine Rechtfertigung für seine Taten als Schlächter zu finden.

«Aber es ist nicht in uns», diagnostizierte Bärfuss, «es ist zwischen uns, vor uns, es ist da, man kann es lesen, man kann es hören, man kann es zur Sprache bringen. Es braucht keine Chirurgen, um uns das Böse aus den Leibern zu operieren.» Schreiben, um zu begreifen

In ihrer Laudatio wies Judith Gerstenberg auf die Schaffenskraft des preisgekrönten Autors hin, der bisher 26 Theaterstücke, drei Romane, zwei Essay- Bände, Erzählungen, Hörspiele sowie Reden und Artikel veröffentlicht hat. Diese «ungeheure Produktivität» komme nicht von ungefähr, denn ihm sei das Schreiben «Instrument, die Welt zu greifen, ihre Zusammenhänge zu erkennen, Orientierung zu finden, vielleicht dadurch auch Halt». Sie attestierte ihm einen «analytischen Blick für Stoffe» und meinte, dass er früher als andere sehe, «was uns beschäftigen müsste».

Die Jury, die Bärfuss den mit 50’000 Euro dotierten Georg- Büchner-Preis verlieh, ortete in seinem Werk ein «nervöses politisches Krisenbewusstsein und die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall, psychologische Sensibilität und der Wille zur Wahrhaftigkeit ». Und weiter heisst es in der Begründung der Jury: «Mit hoher Stilsicherheit und formalem Variationsreichtum erkunden seine Dramen und Romane stets neu und anders existenzielle Grundsituationen des modernen Lebens. » Diese existenziellen Grundsituationen wird Lukas Bärfuss auch in seiner Neuschöpfung des Calderón’schen Welttheaters beleuchten und sie auf dem Hintergrund unseres Lebens hier und jetzt reflektieren.

«Wer den letzten Krieg vergisst, bereitet schon den nächsten vor.»

Lukas Bärfuss

Ernst Osterkamp (links) übergibt als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Lukas Bärfuss den Büchnerpreis.

Foto: Claudia Capecchi

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