Bühne frei für alte und neue Talente
Die künstlerische Leitung des Welttheaters lädt zu Workshops und Castings
Es sind keine Casting-Shows, wie man sie vom Fernsehen her kennt. Keine Parade eitler Stars und Sternchen mit präpotenten Juroren, sondern ein sorgfältiges Ausloten der Möglichkeiten künftiger Darstellerinnen und Darsteller.
WALTER KÄLIN
Das Lampenfieber dürfte es nicht gewesen sein, das den Regisseur Livio Andreina am zweiten Casting-Wochenende ins Bett legte. Dann schon eher das Theatervirus, mit dem er sich immer wieder von Neuem ansteckt und das ihm einiges abverlangt. Der Choreograf Graham Smith hingegen ist munter und macht schon mal Lockerungsübungen. Auch die drei von der Regieassistenz – Nina Halpern, Rita Kälin-Kälin und Gian Leander Bättig – recken die Hälse. Die Produktionsleiterin Claudia Capecchi hingegen schafft das nicht, weil sie am Abend übermüdet auf dem Sofa eingeschlafen und am Morgen mit Nackenbeschwerden aufgewacht ist. Ebenfalls im Zuschauerraum des Stiftstheaters sitzt ganz aufrecht AnnaMaria Glaudemans, welche die Castings verfolgt, um bei der Kreation von Kostümen die Persönlichkeit der Darstellerinnen und Darsteller mitberücksichtigen zu können.
Graham bringt zunächst einmal Bewegung in die Frauengruppe, die für heute aufgeboten wurde: Arme hoch, Arme runter, Arme zur Seite, Übungen für die Beine, die Füsse, für den ganzen Körper. Alle sind nach ein paar Minuten locker und entspannt, das Spiel kann beginnen. Und dieses geht so: Jeweils eine der Frauen sitzt am Boden, alle andern himmeln sie an, strecken die Hände nach ihr aus, werfen ihr sehnsuchtsvolle Blicke zu. Die Bewunderte darf es geniessen und sich am Schluss buchstäblich auf Händen tragen lassen. Dann aber kippt die Szene, die Frauen gehen aufeinander los und demonstrieren ihre Spiellust auf ganz aggressive Weise. Da die gleiche Szene mit wechselnden «Prinzessinnen» durchgespielt wird, sind alle gefordert, Variationen zu zeigen, ihre Kreativität unter Beweis zu stellen.
Noch schwieriger sind die Vorgaben ein paar Tage später, wenn der wieder erstarkte Livio die Ausdrucksmöglichkeiten der anwesenden Frauen, Männer und Kinder auf die Probe stellt. Jetzt sollen sie zeigen, wie sie Verrat wittern, wie sie sich als Opfer eines Verrats erkennen, wie sie Hass schüren, wie sie Mordgedanken wälzen, wie sie sich im Elend fühlen. Das erinnert mich an den Musicalfilm «A Chorus Line», in dem Michael Douglas den unerbittlichen Choreografen spielt, der Tänzerinnen und Tänzer testet. Eine der Kandidatinnen erzählt, was sie in der Ballettschule alles hätte spüren und zum Ausdruck bringen sollen. Es gelang ihr nicht, sie spürte nichts, «nothing ». Einfacher wäre für sie die nächste Aufgabe gewesen, das gemeinsame Fluchen, was recht gut funktioniert. Könnte es sein, dass jemand an diesem Abend auch innerlich, so ganz für sich allein, flucht – «Worauf habe ich mich da eingelassen»? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen, da alle so lustvoll und engagiert bei der Sache sind. Ohne Berührungsängste auch und manchmal ganz schön mutig. Nicht nur das kleine Publikum im Saal staunt über den Einfallsreichtum der Truppe, auch die Spielerinnen und Spieler haben Freude daran und spenden sich gegenseitig Szenenapplaus. Etwa bei den Dialogen in wechselnden Besetzungen, die kabarettreif sind und uns im Zuschauerraum zum Lachen bringen.
«Das sind unglaubliche Theatererlebnisse », meint der Regisseur, und der Choreograf pflichtet ihm bei. Jetzt geht es darum, die vielen Sprechrollen – die Hauptrollen und die episodischen Rollen – richtig zu besetzen. Bei einigen sehen die Verantwortlichen schon ziemlich klar, bei anderen sind sie noch unsicher. Es braucht ein zusätzliches Wochenende, damit bis zur Rollenverteilung vom 20. November alles klar ist. Livio Andreina und Graham Smith möchten einen Cast mit den Besten bilden. «Cast» meint im Englischen übrigens nicht nur «Besetzung», sondern etwa auch «Guss». Wie aus einem solchen wird sich hoffentlich das Ensemble nächstes Jahr dann auch präsentieren.
Die Workshops mit Graham Smith als Vorbereitung für die Castings.